Der Nachtzirkus
der anderen, schnellt herum und lässt das Messer erneut auf das grässliche Wort »fast« zufliegen. Fast.
Offenbar macht er etwas falsch. Wenn seine Inszenierungen nur fast übersinnlich sind, wenn eine echte Übersinnlichkeit irgendwo in der Nähe als Möglichkeit existiert und darauf wartet, erreicht zu werden, dann fehlt noch etwas.
Über diesen Punkt hat er nachgedacht, seit ihm die Kritik, säuberlich ausgeschnitten und annotiert, von seinem Assistenten auf den Schreibtisch gelegt wurde. Für die Nachwelt und zur sicheren Aufbewahrung wurden zusätzliche Kopien an anderer Stelle abgelegt, weil die Schreibtischexemplare oft ein grausames Schicksal ereilt, wenn Chandresh sich über jedes einzelne Wort den Kopf zermartert.
Chandresh genießt Reaktionen. Aufrichtige Reaktionen, nicht nur höflichen Applaus. Oft sind ihm die Reaktionen wichtiger als die Vorstellung selbst. Eine Vorstellung ohne Publikum ist nichts, denn die Kraft seiner Kunst liegt nur in der Begeisterung der Leute.
Er ist im Theater aufgewachsen, saß oft bei Ballettaufführungen in der Loge. Da er ein unruhiges Kind war, langweilten ihn die vertrauten Tänze recht bald und er zog es vor, stattdessen das Publikum zu beobachten. Er wollte sehen, wann es lachte oder nach Luft schnappte, wann die Frauen seufzten und die Männer langsam einnickten.
Deshalb überrascht es vielleicht nicht unbedingt, dass ihn auch jetzt noch, viele Jahre später, das Publikum mehr interessiert als die Vorstellung. Auch wenn die Vorstellung natürlich wirklich grandios sein muss, um die besten Reaktionen zu erzielen.
Und weil er nicht jedes einzelne Gesicht beobachten kann, bei jedem Kunststück, in jeder Vorstellung (Vorstellungen, die von fesselnden Dramen bis zu exotischen Tänzerinnen reichen, und einige, die beides geschickt miteinander verbinden), stützt er sich besonders auf die Kritiken.
Allerdings hat es schon seit einiger Zeit keine Kritik mehr gegeben, die ihn so aufgeregt hat wie diese. Und schon seit Jahren keine, die ihn zum Messerwerfen provoziert hat.
Das Messer fliegt erneut, diesmal durchbohrt es das Wort »Bühne«.
Chandresh geht es holen und nippt unterwegs an seinem Brandy. Er betrachtet interessiert den nunmehr unleserlichen Artikel und späht kurz auf die kaum noch entzifferbaren Worte. Dann brüllt er nach Marco.
DUNKELHEIT UND STERNE
Mit der Eintrittskarte in der Hand folgst du einer langen Schlange von Besuchern in den Zirkus und beobachtest beim Warten die rhythmische Bewegung der schwarzweißen Uhr.
Hinter dem Kartenhäuschen kommt man nur durch einen breitgestreiften Vorhang weiter. Ein Besucher nach dem anderen tritt hindurch und verschwindet außer Sicht.
Als du an der Reihe bist, ziehst du den Stoff beiseite, trittst vor und stehst, sobald der Vorhang sich wieder schließt, in vollkommener Dunkelheit.
Es dauert eine Weile, bis deine Augen sich eingewöhnen, und dann erscheinen winzige Lichtpunkte wie Sterne und säumen die dunklen Wände vor dir.
Und während du noch vor wenigen Sekunden den anderen Zirkusgängern so nah warst, dass du sie hättest berühren können, bist du jetzt allein und tastest dich durch einen labyrinthartigen Tunnel zögernd vorwärts.
Der Tunnel schlängelt und windet sich, die kleinen Lichter sind die einzige Beleuchtung. Du kannst nicht einschätzen, wie weit du schon gegangen bist oder in welche Richtung.
Schließlich gelangst du zu einem zweiten Vorhang. Der samtweiche Stoff teilt sich mühelos unter deinen Händen.
Auf der anderen Seite blendet dich gleißendes Licht.
Wahrheit oder Pflicht
CONCORD, MASSACHUSETTS, SEPTEMBER 1897
Z u fünft sitzen sie in der Nachmittagssonne im Eichbaum. Caroline auf dem höchsten Ast, weil sie immer am weitesten klettert. Darunter hockt ihre beste Freundin Millie. Die Mackenzie-Brüder, die Eichhörnchen mit Eicheln bewerfen, sitzen etwas tiefer, aber trotzdem noch weit oben. Bailey bleibt immer auf einem der unteren Äste. Nicht aus Höhenangst, sondern wegen seiner Stellung in der Gruppe, wenn er überhaupt dabei sein darf. Carolines kleiner Bruder zu sein ist Segen und Fluch zugleich. Manchmal darf er sich ihnen zwar anschließen, aber er wird immer in seine Schranken verwiesen.
»Wahrheit oder Pflicht?«, ruft Caroline von oben. Als sie keine Antwort bekommt, lässt sie eine Eichel auf den Kopf ihres Bruders fallen. »Wahrheit. Oder. Pflicht. Bailey«, wiederholt sie.
Bailey reibt sich durch die Mütze den Kopf. Vielleicht liegt es an der Eichel,
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