Der Nachtzirkus
mit hauchzarten Flügeln. Der köstlichste Apfelmost, den Bailey je getrunken hatte.
Alles war wie verzaubert. Und es schien ewig weiterzugehen. Keiner der Pfade endete, vielmehr gingen sie ineinander über oder sie führten im Kreis zurück auf den Platz in der Mitte.
Hinterher konnte Bailey den Zirkus nicht genau beschreiben. Als seine Mutter ihn fragte, ob es ihm gefallen habe, nickte er nur.
Sie gingen früher zurück, als ihm lieb war. Bailey wäre gern die ganze Nacht geblieben, wenn seine Eltern es erlaubt hätten, so viele Zelte gab es noch zu erkunden. Doch schon nach wenigen Stunden wurde er nach Hause ins Bett gebracht und auf das folgende Wochenende vertröstet, obwohl er besorgt daran dachte, wie schnell der Zirkus beim letzten Mal verschwunden war. Kaum hatte er ihm den Rücken gekehrt, sehnte er sich wieder zurück.
Er überlegt, ob er die Pflicht auch angenommen hat, damit er früher zum Zirkus zurückkehren kann.
Fast zehn Minuten dauert der Weg über die Wiese, und je näher Bailey den Zelten kommt, desto größer und einschüchternder wirken sie und desto unsicherer wird er.
Er überlegt schon, was er als Beweis mitbringen könnte, ohne hineinzugehen, da steht er vor dem Tor.
Es ist gut dreimal so hoch wie er, und der Schriftzug darüber, Le Cirque des Rêves, ist trotz der einzelnen, fast kürbisgroßen Buchstaben im Tageslicht kaum zu erkennen. Die schmiedeeisernen Schnörkel um sie herum erinnern ihn tatsächlich an Kürbisranken. Vor dem Tor hängt ein aufwendiges Schloss, und auf einem kleinen Schild steht in geschwungener Schrift:
Vorstellungen:
NUR IN DER NACHT
und darunter in winzigen schmucklosen Buchstaben:
Unbefugte werden exsanguiniert
Bailey weiß nicht, was »exsanguiniert« bedeutet, aber es klingt nicht gerade vertrauenerweckend. Der Zirkus kommt ihm merkwürdig vor bei Tag, so still. Keine Musik und kein Laut ist zu hören. Nur Vogelrufe aus der Nähe und das Rascheln der Blätter in den Bäumen. Es scheint nicht einmal jemand da zu sein, alles ist wie ausgestorben. Wie in der Nacht riecht es nach Karamell, Popcorn und Rauch, nur etwas schwächer.
Bailey schaut über die Wiese zurück. Die anderen sitzen noch im Baum, auch wenn sie aus der Ferne winzig aussehen. Da sie ihn bestimmt beobachten, geht er um den Zaun auf die Rückseite. Er ist nicht mehr so sicher, ob er seinen Plan noch ausführen möchte, und wenn er es tut, möchte er dabei nicht beobachtet werden.
Hinter dem Tor grenzt der Zaun fast überall an Zeltwände, nirgends kommt man gut hinein. Bailey läuft weiter.
Als die Eiche schon einige Zeit aus seinem Blickfeld verschwunden ist, findet er eine Stelle im Zaun, die nicht an ein Zelt, sondern an einen kleinen Durchgang grenzt, eine schmale Gasse, die sich um ein Zelt windet und hinter einer Ecke verliert. Hier könnte er es probieren.
Bailey stellt fest, dass er eigentlich doch hineinmöchte. Nicht nur wegen des Spiels, sondern aus Neugier. Schrecklicher, hoffnungsloser Neugier. Und außer der Neugier und dem Wunsch, sich vor Caroline und ihrer Bande zu beweisen, verspürt er den unterschwelligen Drang, in den Zirkus zurückzukehren.
Die Eisenstäbe sind dick und glatt, und ohne es auszuprobieren, weiß Bailey, dass er nicht hinüberklettern kann. Erstens würden seine Füße schon bald keinen Halt mehr finden, und dann verjüngen sich die Stäbe am Ende zu schnörkeligen Spitzen. Sie sind zwar nicht übermäßig abschreckend, aber auch keineswegs einladend.
Doch der Zaun ist offenbar nicht ausdrücklich dazu gedacht, zehnjährige Jungen fernzuhalten, denn die Stangen sind zwar stabil, stehen aber gut dreißig Zentimeter auseinander. Und da Bailey ziemlich klein und schmächtig ist, kann er sich fast mühelos hindurchzwängen.
Er zögert noch einen Augenblick, aber er weiß, wenn er es nicht wenigstens versucht, ärgert er sich hinterher schwarz, ganz gleich, was passiert.
Bailey hatte gedacht, alles wäre so wie am Abend zuvor, aber als er sich jetzt durch den Zaun auf den Gang zwischen den Zelten schiebt, ist ihm noch genauso zumute wie auf der anderen Seite. Falls der Zauber auch tagsüber da ist, spürt er ihn nicht.
Der Zirkus wirkt außerdem vollkommen verlassen, von Arbeitern oder Artisten keine Spur.
Nur stiller ist es jetzt, er hört die Vögel nicht mehr. Und die Blätter, die ihm draußen um die Füße geraschelt sind, sind plötzlich verschwunden, obwohl der Wind genügend Platz hätte, sie durch die Stäbe zu wehen.
Bailey überlegt,
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