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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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strotzen. Torten mit schwindelerregend vielen Schichten, Gebäck, leichter als Luft. Honigtriefende Feigen, aus Zucker geblasene Schnörkel und Blumen. Oft sagen die Gäste, es sei viel zu schön und zu schade zum Essen, aber irgendwie schaffen sie es trotzdem immer.
    Chandresh verrät nie den Namen seiner Köche. Einem Gerücht zufolge lässt er kulinarische Genies aus aller Welt entführen und in seine Küchen sperren, wo sie mit fragwürdigen Mitteln dazu gezwungen werden, seine Launen zu bedienen. Einem anderen zufolge wird das Essen nicht vor Ort gekocht, sondern gegen eine Spätzulage von den besten Londoner Restaurants angeliefert – obwohl dies oft zu Debatten führt, wie die warmen Speisen warm und die kalten kalt gehalten werden, Debatten, die nie zu einem befriedigenden Ende kommen und die Beteiligten meistens ziemlich hungrig machen.
    Aber ganz gleich, woher das Essen stammt, es schmeckt immer köstlich. Die Ausstattung des Speisezimmers (oder der Speisezimmer, je nach Größe der Veranstaltung) ist so ausgefallen wie im übrigen Haus, in prächtigem Rot und Gold gehalten und bis in den letzten Winkel mit Kunstwerken und Artefakten aus aller Welt dekoriert. Alles ist von schimmernden Lüstern und zahlreichen Kerzen erhellt, das Licht ist also nicht grell, sondern ein warmes, gedämpftes Flackern.
    Oft gibt es irgendeine Darbietung: Tänzerinnen, Zauberkünstler, exotische Musikanten. Die intimeren Zusammenkünfte werden gewöhnlich von Chandreshs Privatpianistin begleitet, einer schönen jungen Frau, die den ganzen Abend ohne Pause spielt und mit niemandem ein Wort wechselt.
    Es sind Tischgesellschaften wie viele andere, auch wenn das Ambiente und die späte Stunde sie zu etwas ganz Besonderem machen. Chandresh hat einen siebten Sinn für das ganz Besondere – er weiß um die Macht von Atmosphäre.
    An diesem Abend ist das Mitternachtsdinner mit nur fünf geladenen Gästen verhältnismäßig intim. Und heute geht es nicht nur um Geselligkeit.
    Als Erste (nach der bereits spielenden Pianistin) trifft Mme. Ana Padva ein, eine pensionierte rumänische Primaballerina, die eng mit Chandreshs Mutter befreundet war. Als Kind nannte er sie Tante Padva, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Sie ist eine stattliche Erscheinung, und ihre tänzerische Anmut und ihr untrügliches Gespür für Stil sind auch im vorgerückten Alter noch sichtbar. Ihr Stilgefühl ist auch der Hauptgrund für ihre Einladung an diesem Abend. Als große Freundin der Ästhetik hat sie ein einzigartiges und unbestechliches Urteil in Sachen Mode, das ihr seit ihrem Rückzug vom Ballett ein beträchtliches Einkommen verschafft.
    Wenn es um Kleider geht, ist diese Frau eine Zauberin, sagen die Zeitungen. Eine Wunderwirkerin. Mme. Padva tut solche Kommentare ab, auch wenn sie gern scherzt, dass sie mit ausreichend Seide und einem extrastarken Korsett sogar Chandresh in eine hochmodische Dame verwandeln könnte.
    Heute Abend trägt Mme. Padva ein Kleid aus schwarzer Seide mit kunstvollem handgesticktem Kirschblütenmuster, eine Art Gewand in Anlehnung an einen Kimono. Ihr silbernes Haar ist hochgesteckt und mit einem juwelenbesetzten Duttkrönchen befestigt. Eine enganliegende Kette aus perfekt geschliffenen Rubinen umschmiegt ihren Hals, so dass der vage Eindruck entsteht, ihre Kehle sei aufgeschlitzt. Die Gesamtwirkung ist leicht makaber und unglaublich elegant.
    Mr Ethan W. Barris ist ein namhafter Ingenieur und Architekt und der zweite eintreffende Gast. Mit seiner scheuen Art, der silbernen Brille und den sorgsam über die licht werdenden Stellen gekämmten Haaren sieht er aus, als hätte er sich im Gebäude geirrt und wäre besser in einem Büro oder einer Bank aufgehoben. Er ist Chandresh erst einmal begegnet, auf einem Symposium zur altgriechischen Architektur. Die Einladung zu diesem Abendessen kam überraschend: Mr Barris gehört nicht zu den Leuten, die zu ungewöhnlichen spätabendlichen Gesellschaften eingeladen werden – und eigentlich auch nicht zu gewöhnlichen, aber eine Ablehnung erschien ihm als unhöflich. Außerdem wollte er schon lange einen Blick in die Lefèvre’sche Stadtvilla werfen, die unter seinen Kollegen aus der Innenarchitektur fast als legendär gilt.
    Schon kurz nach seiner Ankunft findet er sich mit einem Glas Sekt in der Hand wieder und tauscht Höflichkeiten mit einer ehemaligen Primaballerina aus. Er kommt zu dem Schluss, dass ihm ungewöhnliche spätabendliche Gesellschaften eigentlich doch
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