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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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Burgess-Schwestern unterdrückt ein Kichern.
    »Aber natürlich, Tante Padva.« Chandresh verbeugt sich in ihre Richtung. »Meine neue Spielerei, wie du es so treffend nennst, ist ein Zirkus.«
    »Ein Zirkus?«, sagt Lainie Burgess mit einem Lächeln. »Wie wunderbar!«
    »Eine Art Kirmes?«, fragt Mr Barris leicht verwirrt.
    »Mehr als eine Kirmes«, sagt Chandresh. »Und auch mehr als ein Zirkus, oder zumindest einer, wie ihn noch niemand gesehen hat. Nicht ein großes Zelt, sondern viele, jedes mit einer eigenen Schau. Keine Elefanten oder Clowns. Nein, etwas Raffinierteres. Nichts Gewöhnliches. Es soll anders sein, ein einzigartiges Erlebnis, ein rauschendes Fest für die Sinne. Theatralik ohne Theater, Unterhaltung zum Eintauchen. Wir werden die Vorstellungen und herkömmlichen Ideen von einem Zirkus sprengen und ihn vollkommen neu erschaffen.« Er gibt Marco ein Zeichen, der daraufhin die Papierrollen auf dem Tisch ausbreitet und die Ecken mit verschiedenen Briefbeschwerern und Kuriositäten (ein Affenschädel, ein Schmetterling in Glas) befestigt.
    Die Pläne bestehen vorwiegend aus mit Notizen versehenen Skizzen. Sie zeigen nur Ideenfragmente: einen Kreis von Zelten, einen Mittelgang. An den Seiten sind Attraktionen oder Darbietungen aufgelistet, einige durchgestrichen oder eingekringelt. Wahrsagerin. Akrobaten. Zauberer. Schlangenmenschen. Tänzer. Feuerkünstler.
    Die Burgess-Schwestern und Mr Barris studieren die Skizzen und lesen jedes Wort, während Chandresh weiterspricht. Mme. Padva nippt nur lächelnd an ihrem Brandy. Mr A. H— rührt sich nicht, seine Miene ist so undurchdringlich wie zuvor.
    »Das Ganze ist noch in der Entwurfsphase, deshalb bitte ich Sie alle hier und jetzt um die Grundsteinlegung und Weiterentwicklung. Wir brauchen Stil und Extravaganz. Originalität in Konstruktion und Gestaltung. Es muss von Faszination durchdrungen sein und vielleicht mit einem Hauch von Geheimnis. Ich glaube, Sie sind die richtige Gruppe für dieses Unterfangen. Wer gegenteiliger Meinung ist, darf sich gern verabschieden, aber ich ersuche Sie höflichst, mit niemandem darüber zu sprechen. Ich möchte, dass diese Pläne streng geheim bleiben, zumindest fürs Erste. Schließlich ist alles noch sehr heikel.« Er nimmt einen langen Zug von seiner Zigarre und bläst den Rauch langsam aus. »Wenn wir die Sache richtig angehen, entwickelt sie sich bestimmt wie von selbst.«
    Als er fertig ist, entsteht eine Pause. Nur das Knistern des Feuers ist im Raum zu hören, während die Gäste von einem zum anderen blicken und warten, dass jemand das Wort ergreift.
    »Könnte ich einen Stift bekommen?«, fragt Mr Barris. Marco reicht ihm einen, und Mr Barris fängt an zu zeichnen, bis aus dem groben Aufriss der Zirkusanlage ein komplizierter Entwurf entsteht.
    Als Chandreshs Gäste kurz vor Tagesanbruch schließlich aufbrechen, befinden sich im Arbeitszimmer dreimal so viele Zeichnungen, Pläne und Notizen wie vor ihrer Ankunft. Sie liegen auf Tischen verstreut und hängen ringsum an den Wänden wie Karten zu einem unbekannten Schatz.

Kondolenzpost
    NEW YORK, MÄRZ 188 5
    L aut Zeitungsmeldung starb Hector Bowen, besser bekannt als Zauberer Prospero, hochberühmter Bühnenmagier und Unterhaltungskünstler, am fünfzehnten März zu Hause an Herzversagen.
    Es folgt eine längere Passage zu seiner Arbeit und seinem Vermächtnis. Die Altersangabe ist falsch, eine Kleinigkeit, die nur wenigen Lesern auffällt. In einem kurzen Absatz am Ende des Nachrufs wird erwähnt, dass er eine Tochter im Alter von siebzehn Jahren, Miss Celia Bowen, hinterlässt. Diese Zahl stimmt. Ferner wird darauf verwiesen, dass die Trauerfeier im engsten Familienkreis stattfindet, Kondolenzschreiben aber an die Adresse eines hiesigen Theaters geschickt werden können.
    Die Karten und Briefe werden gesammelt, in Säcke gepackt und per Boten zum Privatwohnsitz der Bowens gebracht, einem Haus, das bereits von angemessen tristen Blumengebinden überquillt. Der Duft der Lilien ist erdrückend, und als Celia ihn nicht mehr ertragen kann, verwandelt sie sämtliche Blumen in Rosen.
    Die zahllosen Beileidsbekundungen türmen sich auf dem Esszimmertisch, bis dort kein Platz mehr ist und sie in den Salon überfließen. Celia will sich nicht mit ihnen befassen, bringt es aber auch nicht fertig, sie ungelesen wegzuwerfen.
    Als sie der Sache nicht länger aus dem Weg gehen kann, brüht sie eine Kanne Tee auf und nimmt die Papierberge in Angriff. Sie öffnet ein
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