Der Nachtzirkus
Schreiben nach dem anderen und sortiert sie in Stapeln.
Die Poststempel stammen aus aller Welt. Manche Briefe sind lang und aufrichtig und voll tiefempfundener Trauer. Manche enthalten nichtssagende Wünsche und Lobhudeleien auf das Talent ihres Vaters. Viele Absender merken an, dass sie von einer Tochter des großen Prospero nichts gewusst haben. Andere erinnern sich liebevoll an sie und beschreiben ein entzückendes kleines Mädchen, deren Celia sich so nicht entsinnen kann. Ein paar Briefe beinhalten verstörend formulierte Heiratsanträge.
Besonders diese knüllt Celia zusammen, legt einen zerknitterten Schrieb nach dem anderen auf ihre flache Hand und konzentriert sich, bis er in Flammen aufgeht und nur noch Asche zurückbleibt, die sie ins Nichts wischt.
»Ich bin schon verheirate t «, sagt sie ins Leere und dreht den Ring an ihrer rechten Hand, der eine auffällige alte Narbe verdeckt.
Zwischen den Briefen und Karten befindet sich auch ein schlichter grauer Umschlag.
Celia zieht ihn aus dem Stapel, schlitzt ihn mit einem silbernen Brieföffner auf und will ihn schon zu den anderen legen.
Doch im Gegensatz zu den anderen ist dieser Umschlag an ihren Vater adressiert, obwohl der Poststempel ein Datum nach seinem Todestag trägt. Die beiliegende Karte ist weder eine förmliche noch eine persönliche Beileidsbekundung.
Sie enthält keine Anrede. Keine Unterschrift. Auf dem Papier steht handgeschrieben:
Du bist am Zug.
Sonst nichts.
Celia dreht die Karte um, aber die Rückseite ist unbeschrieben. Nicht mal ein Wasserzeichen des Herstellers ist zu erkennen. Auf dem Umschlag steht kein Absender.
Sie liest die vier Wörter auf dem grauen Papier mehrere Male und weiß nicht, ob es Erregung oder Angst ist, die sie wie ein Schauer durchläuft.
Mit der Karte in der Hand geht Celia aus dem Zimmer und steigt die Wendeltreppe zum Salon hinauf. Sie zieht ein Schlüsselbund aus ihrer Tasche, schließt ungeduldig drei separate Schlösser auf und tritt in den von der hellen Nachmittagssonne durchfluteten Raum.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragt sie mit der Karte in der ausgestreckten Hand.
Die Gestalt am Fenster dreht sich um. Dort, wo das Licht auf sie fällt, ist sie fast unsichtbar. Ein Teil der Schulter scheint zu fehlen, der Oberkopf verschwindet in einem Geflimmer von Staubkörnern. Der Rest des Körpers ist transparent, wie das Spiegelbild in einer Glasscheibe.
Hector Bowen – oder was von ihm übrig ist – liest die Nachricht und lacht vergnügt auf.
Die Tätowierung der Schlangenfrau
LONDON, SEPTEMBER 1885
U ngefähr einmal im Monat findet nun in nicht ganz regelmäßiger Folge ein Mitternachtsdinner statt, das die Gäste zumeist als Zirkusdinner bezeichnen – eine nächtliche Mischung aus Geselligkeit und Geschäftssitzung.
Mme. Padva ist immer anwesend, und mindestens eine der Burgess-Schwestern gehört zur Grundausstattung. Mr Barris stößt dazu, sooft sein Zeitplan es erlaubt, denn er muss ziemlich viel reisen und ist nicht so flexibel, wie es ihm lieb wäre.
Mr A. H— erscheint selten. Tara bemerkt, dass die Sitzungen nach dem Essen mit ihm produktiver sind, obwohl er nur gelegentlich Vorschläge zur Zirkusorganisation macht.
An diesem Abend sind nur die Damen zugegen.
»Wo ist denn heute unser Mr Barris?«, erkundigt sich Mme. Padva, als die Burgess-Schwestern ohne ihren gewohnten Begleiter eintreffen.
»In Deutschland«, antworten Lainie und Tara im Chor, worauf Chandresh lacht und ihnen ein Weinglas reicht.
»Er spürt einen Uhrmacher auf«, fährt Lainie fort. »Will irgendwas für den Zirkus in Auftrag geben, vor der Abreise war er ganz aus dem Häuschen.«
Für das heutige Dinner ist kein Unterhaltungsprogramm vorgesehen, nicht einmal die übliche Klavierbegleitung, aber dann steht doch jemand unangekündigt vor der Tür und sorgt für Unterhaltung.
Sie stellt sich als Tsukiko vor, ohne zu erläutern, ob es ihr Vor- oder Nachname ist.
Sie ist klein, aber nicht winzig. Ihre langen nachtschwarzen Haare sind in kunstvoll verschlungenen Zöpfen auf dem Kopf festgesteckt. Sie trägt einen dunklen Mantel, der ihr zu groß ist, aber durch ihre Haltung fällt er wie ein Umhang und wirkt geradezu elegant.
Marco lässt sie in der Halle warten, wo sie geduldig unter einer aufragenden goldenen Statue mit Elefantenkopf steht, während er Chandresh die Situation zu erklären versucht, was natürlich dazu führt, dass die gesamte Dinnergesellschaft ins Foyer marschiert, um zu sehen,
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