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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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recht gut gefallen und er vielleicht öfter welche besuchen sollte.
    Die Burgess-Schwestern treffen gemeinsam ein. Tara und Lainie machen von allem etwas. Mal sind sie Tänzerinnen, mal Schauspielerinnen. Früher waren sie Bibliothekarinnen, aber darüber reden sie nur, wenn sie viel getrunken haben. Seit neuestem betätigen sie sich als Beraterinnen. In jedem Bereich. Sie bieten Rat bei Themen, die von Liebesbeziehungen über Finanzen bis hin zu Reisen und Schuhen reichen. Ihr Geheimnis (das sie ebenfalls ausplaudern, wenn sie genügend getrunken haben) liegt in ihrer hochentwickelten Beobachtungsgabe. Sie nehmen jedes Detail wahr, bemerken die leisesten Zwischentöne. Und wenn Tara tatsächlich einmal etwas entgeht, bekommt Lainie es garantiert mit (und umgekehrt).
    Sie haben festgestellt, dass sie die Probleme der Ratsuchenden lieber durch Anregungen lösen, als die ganze Arbeit allein zu übernehmen. Das sei befriedigender, sagen sie.
    Die Burgess-Schwestern ähneln sich: Sie haben das gleiche wellige Kastanienhaar und große hellbraune Augen, durch die sie jünger wirken, auch wenn keine ihr Alter verraten oder zugeben will, wer die Ältere von beiden ist. Sie tragen modische Kleider, die sich nicht genau gleichen, aber wunderbar ergänzen.
    Mme. Padva begrüßt sie mit dem gespielten Desinteresse, das sie sich für junge hübsche Dinger aufhebt, taut jedoch auf, als sie ihr begeisterte Komplimente zu ihrer Frisur, ihrem Schmuck und ihrem Kleid machen. Mr Barris ist von beiden gleichermaßen hingerissen, aber das liegt vielleicht am Wein. Er hat erhebliche Probleme, ihren starken schottischen Akzent zu verstehen, sofern sie wirklich Schottinnen sind. Er ist sich nicht ganz sicher.
    Der letzte Gast trifft kurz vor dem Essen ein, gerade als die übrigen Gäste Platz nehmen und der Wein ausgeschenkt wird. Es ist ein großer Mann von unbestimmtem Alter und ohne markante Gesichtszüge. Er trägt einen makellosen grauen Frack und gibt Zylinder und Gehstock an der Tür ab, zusammen mit einer Karte, auf der »Mr A. H—« steht. Er nickt den anderen Gästen höflich zu, als er sich setzt, sagt aber nichts.
    An dieser Stelle gesellt sich Chandresh zu ihnen, dicht gefolgt von seinem Assistenten Marco, einem gutaussehenden jungen Mann mit auffälligen grünen Augen, der schnell die Aufmerksamkeit der Burgess-Schwestern auf sich zieht.
    »Wie Sie inzwischen gewiss ahnen«, sagt Chandresh, »habe ich Sie aus einem bestimmten Grund hierher eingeladen. Da es sich jedoch um eine Geschäftsangelegenheit handelt und sich derlei am besten mit vollem Bauch besprechen lässt, sparen wir uns den offiziellen Teil für nach dem Dessert auf.« Er winkt flüchtig einem Kellner, und als die Uhr in der Halle zwölf schlägt und der tiefe, schwere Klang im ganzen Haus widerhallt, wird der erste Gang serviert.
    Bei den nachfolgenden Gängen fließt die Unterhaltung so fröhlich wie der Wein. Die Damen sind gesprächiger als die Herren. Genau genommen sagt der Mann im grauen Anzug sogar kaum ein Wort. Und obwohl sich die wenigsten schon einmal begegnet sind, hätte ein Außenstehender spätestens beim Abräumen der plats principaux denken können, dass sie einander seit einer Ewigkeit kennen.
    Als der Nachtisch um kurz vor zwei am Morgen verspeist ist, steht Chandresh auf und räuspert sich.
    »Wenn Sie so freundlich wären, mich auf Kaffee und Brandy ins Arbeitszimmer zu begleiten, könnten wir uns dem Geschäftlichen widmen.« Er nickt Marco zu, der davoneilt und oben im Arbeitszimmer mit mehreren großen Notizbüchern und Papierrollen in der Hand wieder zu ihnen stößt. Kaffee und Brandy werden eingeschenkt, und die Gäste machen es sich auf verschiedenen Sofas und Sesseln um das knisternde Kaminfeuer bequem. Nachdem Chandresh sich eine Zigarre angezündet hat, beginnt er seine Rede, die er mit gezielt platzierten Rauchwölkchen untermalt.
    »Ihre Gesellschaft wurde heute Abend erbeten, weil ich ein Projekt in Angriff nehme, ein Unterfangen, könnte man auch sagen. Ich bin überzeugt, dass Sie dieses Unterfangen alle reizen wird und dass jeder von Ihnen auf seine einzigartige Weise bei der Planung behilflich sein kann. Ihre Mitwirkung, die natürlich vollkommen freiwillig ist, käme mir sehr entgegen und würde auch gut entlohnt«, sagt er.
    »Rede nicht um den heißen Brei herum und verrate uns deine neue Spielerei«, sagt Mme. Padva und schwenkt ihren Brandy. »Ein paar von uns sind nicht mehr die Jüngsten.« Eine der
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