Der Nachtzirkus
was der Grund für den Wirbel ist.
»Was führt Sie um diese Stunde hierher?«, fragt Chandresh verwirrt. Im Hause Lefèvre ist schon Seltsameres passiert als unverhofft eintretende Vergnügungen, und die Pianistin schickt durchaus einmal Ersatz, wenn sie selbst keine Zeit hat.
»Ich war schon immer ein Nachtmensch«, erwidert Tsukiko nur, ohne näher auszuführen, welche Laune des Schicksals sie um diese Zeit an diesen Ort geführt hat, aber das Lächeln, mit dem sie ihre kryptische Äußerung begleitet, ist herzlich und ansteckend. Die Burgess-Schwestern bitten Chandresh, dass sie bleiben darf.
»Wir wollten uns gerade zum Essen hinsetzen«, sagt Chandresh stirnrunzelnd, »aber Sie können uns gern ins Speisezimmer begleiten und … Ihre Sache machen.«
Tsukiko verbeugt sich, und wieder erscheint ihr Lächeln.
Während die anderen im Gänsemarsch ins Speisezimmer zurückgehen, hilft Marco ihr aus dem Mantel und stutzt, als er sieht, was darunter zum Vorschein kommt.
Sie trägt einen Hauch von einem Kleid, das man in anderen Kreisen wahrscheinlich für schockierend hielte, aber diese Runde ist nicht so leicht zu schockieren. Es ist eher ein duftiges, von einem eng geschnürten Korsett gehaltenes rotes Seidentuch als ein richtiges Kleid.
Doch Marco verblüfft nicht die leichte Bekleidung, sondern die Tätowierung, die sich über ihre Haut schlängelt.
Auf den ersten Blick ist nur ein Strudel von schwarzen Punkten zu erkennen, der sich um ihre Schulter und ihren Hals ringelt; vorne endet er knapp über dem Ausschnitt, hinten verschwindet er zwischen den Korsettschnüren. Wie weit er hinabreicht, lässt sich unmöglich sagen.
Bei näherem Hinsehen erkennt man, dass das Geschnörkel aus mehr besteht als einfachen Punkten. Es ist eine Flut von alchemistischen und astrologischen Symbolen, alten Zeichen für Planeten und Elemente, die in schwarzer Tinte auf ihrer hellen Haut prangen. Quecksilber. Blei. Antimon. Auf ihrem Nacken ist eine Mondsichel, nahe dem Schlüsselbein ein altägyptisches Anch. Auch andere Symbole sind darunter: nordische Runen, chinesische Schriftzeichen. Unzählige kleine Tätowierungen, die alle zu einem anmutigen Motiv verschmelzen, das sie ziert wie ein elegantes, außergewöhnliches Schmuckstück.
Tsukiko ertappt Marco dabei, wie er sie anstarrt, und sagt ruhig: »Es gehört zu der, die ich war, die ich bin und die ich sein werde.«
Dann lächelt sie und geht an ihm vorbei ins Speisezimmer, gerade als die Uhr anfängt, Mitternacht zu schlagen und der erste Gang serviert wird.
An der Tür streift sie ihre Schuhe ab und läuft barfuß zu der Stelle beim Klavier, die von den Kronleuchtern und Kandelabern am besten ausgeleuchtet ist.
Erst steht sie nur ruhig und entspannt da, während die Gäste sie neugierig betrachten, aber dann wird schnell klar, welche Form der Unterhaltung sie bietet.
Tsukiko ist eine Schlangenfrau.
Gewöhnlich können sich Schlangenmenschen, je nach Beweglichkeit ihrer Wirbelsäule, entweder besonders gut nach vorn oder nach hinten verbiegen, und davon hängen auch ihre Kunststücke und Darbietungen ab. Doch Tsukiko gehört zu den wenigen Ausnahmen, die in beiden Richtungen gleich gelenkig sind.
Sie bewegt sich mit der Anmut einer ausgebildeten Balletttänzerin, wie Mme. Padva noch vor den imposanteren Figuren bemerkt und den Burgess-Schwestern zuflüstert.
»Konnten Sie das in Ihren Ballerina-Zeiten auch?«, fragt Tara, als Tsukiko eines ihrer Beine unfassbar weit über den Kopf zieht.
Mme. Padva schüttelt den Kopf. »Dann hätte ich einen bedeutend volleren Terminkalender gehabt.«
Tsukiko ist eine vollendete Artistin. Ihre Bewegungen sind absolut fließend, und die Dauer ihrer Figuren und Pausen ist genau richtig. Und obwohl sie ihren Körper in unvorstellbare und schmerzhaft aussehende Haltungen verrenkt, verschwindet ihr seliges Lächeln nie.
Ihr bescheidenes Publikum vergisst beim Zuschauen sogar das Essen.
Lainie meint nachher zu ihrer Schwester, sie habe ganz sicher Musik gehört, obwohl außer dem Rascheln von Seide und dem Knistern des Kaminfeuers kein Laut zu hören ist.
»Genau das habe ich gemeint«, sagt Chandresh und schlägt in der verzückten Stille unvermittelt mit der Faust auf den Tisch. Tara lässt beinah die Gabel fallen, die sie gedankenverloren in der Hand gehalten hat; sie fängt sie gerade noch auf, bevor sie auf ihren Teller mit den kaum angerührten, in Wermut pochierten Austern scheppert. Tsukiko fährt unbeirrt fort, auch
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