Der Nachtzirkus
Zahl auf ihrem Zettel verliest.
Der Zauberer, der zuletzt die goldene Tür passiert hat (ein rundlicher Bursche mit Zylinder und Glitzerumhang), kehrt ziemlich schnell und sichtlich erregt ins Foyer zurück, rauscht zum Ausgang hinaus und lässt die Tür laut hinter sich zuschlagen. Der Knall hallt noch im Foyer wider, als der Mann mit dem Notizbuch erneut auftaucht, geistesabwesend in den Raum nickt und sich räuspert.
»Nummer dreiundzwanzig«, sagt Marco nach einem Blick auf seine Liste.
Alle Augen richten sich auf das Mädchen, das von seinem Platz aufsteht und vortritt.
Verwirrt sieht Marco sie auf sich zukommen, doch dann weicht seine Verwirrung etwas völlig anderem.
Schon vom anderen Ende des Raums konnte er erkennen, dass sie attraktiv ist, aber als sie nah genug ist, um ihm in die Augen zu blicken, wird diese Attraktivität – das ebenmäßige Gesicht, der reizvolle Kontrast von Haaren und Teint – noch gesteigert.
Sie ist strahlend schön. Als sie sich ansehen, vergisst er vorübergehend, was er hier macht und warum sie ihm einen Zettel reicht, auf dem in seiner Handschrift die Ziffer Dreiundzwanzig steht.
»Hier entlang, bitte«, bringt er heraus, als er den Zettel nimmt und ihr die Tür aufhält. Sie bedankt sich mit einem winzigen Knicks, und noch ehe sich die Tür hinter ihnen schließt, entsteht im Foyer ein reges Geflüster.
*
Der Theatersaal ist prunkvoll und gewaltig, mit endlosen Reihen roter Plüschsitze. Parkett, Balkon und Galerie erstrecken sich wie eine Purpurkaskade vor der leeren Bühne. Nur zwei Leute befinden sich im Zuschauerraum, sie sitzen ungefähr in der zehnten Reihe. Chandresh Christophe Lefèvre hat die Füße auf die Rückenlehne vor ihm gelegt. Zu seiner Rechten sitzt Mme. Ana Padva, die mit unterdrücktem Gähnen eine Uhr aus ihrer Tasche zieht.
Marco taucht aus dem Seitenflügel auf, das Mädchen im grünen Kleid geht dicht hinter ihm. Er winkt sie zur Bühnenmitte und kündigt sie dem fast leeren Theater an, ohne den Blick von ihr wenden zu können.
»Nummer dreiundzwanzig«, sagt er, steigt dann ein Treppchen an der Rampe hinunter und bleibt am Rand der ersten Reihe stehen, den Füllfederhalter schreibbereit über seinem aufgeschlagenen Notizbuch.
Mme. Padva blickt auf und steckt lächelnd ihre Uhr zurück in die Tasche.
»Was ist denn das?«, fragt Chandresh an niemand Bestimmten gewandt. Das Mädchen antwortet nicht.
»Das ist Nummer dreiundzwanzig«, wiederholt Marco und schaut auf seiner Liste nach, ob die Nummer auch stimmt.
»Wir halten hier eine Vorführprobe für Illusionisten ab, meine Liebe«, sagt Chandresh ziemlich laut, und seine Stimme hallt durch den riesigen Saal. »Magier, Zauberkünstler und so weiter. An hübschen Assistentinnen besteht zurzeit kein Bedarf.«
»Ich bin Illusionistin«, erwidert das Mädchen. Ihre Stimme klingt ruhig und tief. »Ich bin hier, um etwas vorzuzaubern.«
»Aha«, sagt Chandresh und mustert sie langsam und mit gerunzelter Stirn von Kopf bis Fuß. Das Mädchen bleibt still und geduldig mitten auf der Bühne stehen, als hätte es mit einer solchen Reaktion gerechnet.
»Gibt es daran etwas auszusetzen?«, fragt Mme. Padva.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das passend ist«, sagt Chandresh und nimmt das Mädchen nachdenklich in Augenschein.
»Nachdem du die Schlangenfrau derart in den Himmel gehoben hast?«
Chandresh zögert und betrachtet weiter das Mädchen auf der Bühne, das zwar verhältnismäßig elegant, aber nicht besonders außergewöhnlich wirkt.
»Das ist etwas anderes«, fällt ihm als Erklärung nur ein.
»Also wirklich, Chandresh«, sagt Mme. Padva. »Wir sollten ihr wenigstens die Chance geben, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, bevor wir uns darüber streiten, ob eine weibliche Zauberkünstlerin passend ist.«
»Aber sie kann viel mehr in ihren Ärmeln verstecken«, protestiert er.
Zur Antwort knöpft das Mädchen seine Jacke mit den Puffärmeln auf und lässt sie kurzerhand neben sich auf die Bühne fallen. Ihr grünes Kleid ist sowohl ärmel- als auch trägerlos, Schultern und Arme sind vollkommen frei, nur um den Hals trägt sie eine lange Silberkette mit einem Medaillon, wie es scheint. Dann streift sie auch ihre Handschuhe ab und wirft sie nacheinander auf die Jacke. Mme. Padva sieht Chandresh herausfordernd an, woraufhin er seufzt.
»Na schön«, sagt er. »Dann mal los.« Er winkt Marco kurz zu.
»Jawohl.« Marco wendet sich dem Mädchen zu. »Vor der praktischen Probe
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