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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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Uhrenkastens vor oder zurück, wie Puzzleteile. Als fiele die Uhr langsam und anmutig auseinander.
    All das dauert Stunden.
    Das Zifferblatt färbt sich dunkelgrau, dann schwarz, und dort, wo die Ziffern standen, funkeln nun Sterne. Der Uhrenkasten, der sich auseinandergeklappt und sein Inneres systematisch nach außen gekehrt hat, besteht aus feinen Weiß- und Grautönen. Zum Vorschein gekommen sind Figuren und Objekte, kunstvoll geschnitzte Blumen, Planeten und winzige Bücher mit echten, sich umblätternden Papierseiten. Ein Silberdrache windet sich um einen Teil des nunmehr sichtbaren Uhrwerks, und da ist eine winzige Prinzessin, die in einem geschnitzten Turm unglücklich auf und ab läuft, während sie auf einen Prinzen wartet. Teekännchen ergießen sich in Teetässchen, aus denen winzige Dampfkringel aufsteigen, während die Sekunden vorüberticken. Eingepackte Geschenke öffnen sich. Kätzchen jagen Hündchen. Eine Schachpartie wird von Anfang bis Ende durchgespielt.
    In der Mitte, wo bei einer herkömmlichen Uhr der Kuckuck sitzen würde, wirft ein Jongleur mit Harlekinkostüm und grauer Maske glänzende Silberkugeln durch die Luft, eine für jede volle Stunde. Sobald die Uhr schlägt, kommt eine weitere Kugel hinzu, bis er um Mitternacht zwölf Kugeln in einem komplizierten Muster durch die Luft balanciert.
    Nach Mitternacht klappt die Uhr sich langsam wieder zusammen. Das Zifferblatt wird heller, und die Wolken kehren zurück. Die Zahl der Silberkugeln nimmt ab, bis der Jongleur am Ende selbst verschwindet.
    Bis Mittag ist die Uhr wieder eine Uhr und nicht länger ein Traum.
    Ein paar Wochen nach der Verschickung erhält Herr Thiessen einen Brief von Mr Barris, in dem er ihm aufrichtig dankt und die unglaubliche Originalität der Uhr preist. »Sie ist vollkommen«, schreibt er. Dem Brief liegt wieder eine exorbitante Geldsumme bei, mit der Herr Thiessen sich komfortabel zur Ruhe setzen könnte. Aber er will nicht und fertigt weiter Uhren in seiner Münchener Werkstatt.
    Er denkt nur selten an die Uhr und fragt sich dann, wie es ihr gehen und wo sie wohl sein könnte (wobei er fälschlicherweise annimmt, sie sei in London), vor allem dann, wenn er an einer Uhr sitzt, die ihn an die Wunschtraumuhr erinnert, wie er sie in den mühsameren Konstruktionsphasen genannt hatte, als er noch unsicher war, ob sie ein Traum ist, der sich vielleicht niemals verwirklichen lässt.
    Von Mr Barris hört er nach diesem einen Brief nichts mehr.

Zauberprobe
    LONDON, APRIL 1886
    S o viele Zauberkünstler auf einen Schlag waren noch nie im Theaterfoyer. Ein ganzer Schwarm makelloser Anzüge und strategisch platzierter Seidentaschentücher. Manche haben eine Truhe dabei und einen Umhang um, andere halten einen Vogelkäfig oder einen Stock mit Silberknauf in der Hand. Schweigend warten sie darauf, hineingerufen zu werden, einzeln, aber nicht mit Namen (weder dem echten noch dem Künstlernamen), sondern anhand der Nummer auf dem Zettel, den man ihnen bei der Ankunft überreicht hat. Statt zu plaudern und zu tratschen oder berufliche Tricks und Kniffe auszutauschen, rutschen sie unruhig auf ihren Stühlen hin und her und werfen dem Mädchen misstrauische Blicke zu.
    Ein paar haben sie zunächst für eine Assistentin gehalten, aber auch sie sitzt auf einem Stuhl und wartet mit einem Nummernzettel ( 23 ).
    Sie hat keine Truhe, keinen Umhang, keinen Vogelkäfig oder Spazierstock dabei. Sie trägt ein dunkelgrünes Kleid und darüber eine zugeknöpfte schwarze Jacke mit Puffärmeln. Die üppigen braunen Locken sind unter einem nicht weiter bemerkenswerten schwarzen Federhut ordentlich hochgesteckt. Die langen Wimpern und der leichte Schmollmund verleihen ihr etwas Mädchenhaftes, obwohl sie eindeutig kein Mädchen mehr ist. Aber ihr Alter ist schwer zu schätzen, und niemand traut sich zu fragen. So oder so ist sie für die anderen »das Mädchen«, und als solches wird sie auch in den Gesprächen nach dem »Vorfall« bezeichnet. Trotz der schlecht versteckten und mitunter sogar unverhohlen starrenden Blicke schenkt sie niemandem Beachtung.
    Einzeln ruft ein Mann mit Liste und Notizbuch die Nummern auf und geleitet die Zauberkünstler durch eine vergoldete Seitentür, und einzeln kehrt auch jeder ins Foyer zurück und verlässt das Theater. Bei manchen dauert es nur Minuten, andere bleiben eine ganze Weile. Diejenigen mit höheren Nummern warten ungeduldig darauf, dass der Mann mit dem Notizbuch wieder erscheint und höflich die

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