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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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wenn ihr Lächeln zunehmend strahlender wird.
    »Das?«, fragt Mme. Padva.
    »Das!«, wiederholt Chandresh und zeigt auf Tsukiko. »Genau in diese Richtung soll der Zirkus gehen. Ungewöhnlich, aber schön. Provozierend und dennoch elegant. Dass sie heute Nacht hier ist, nenne ich Kismet. Wir müssen sie unbedingt haben, mit etwas Geringerem gebe ich mich nicht zufrieden. Marco, hol der Dame einen Stuhl.«
    Ein Gedeck wird für Tsukiko aufgelegt, und sie setzt sich mit amüsiertem Lächeln zu den anderen an den Tisch.
    Bei der folgenden Unterhaltung geht es eher um kreativen Austausch als um ein direktes Angebot für ein Engagement, und mehr als einmal schweift man zu den Themen Ballett, aktuelle Mode und japanische Mythologie ab.
    Nach fünf Gängen und ziemlich viel Wein lässt Tsukiko sich überreden, irgendwann bei einem noch nicht existierenden Zirkus aufzutreten.
    »Nun denn«, sagt Chandresh. »Mit Schlangenmenschen wären wir also versorgt. Das ist doch schon mal ein Anfang.«
    »Sollten wir nicht mehr als einen haben?«, fragt Lainie. »Ein ganzes Zelt, wie bei den Akrobaten?«
    »Unsinn«, entgegnet Chandresh. »Lieber ein lupenreiner Diamant als ein Sack voll minderwertiger Steine. Wir machen sie zu einer Hauptattraktion, lassen sie auf dem zentralen Platz auftreten oder etwas in der Art.«
    Die Angelegenheit gilt vorläufig als beschlossen, und beim Dessert und den Digestifs geht es nur noch um den Zirkus.
    *
    Als Tsukiko geht, gibt sie Marco eine Visitenkarte, und schon bald wird sie zu einer festen Größe beim Zirkusdinner, wo sie häufig vor oder nach dem Essen auftritt, um die Gäste nicht abzulenken.
    Sie bleibt Chandreshs liebster, oft herangezogener Maßstab dafür, wie der Zirkus sein sollte.

Uhrmacherkunst
    MÜNCHEN, 1885
    H err Friedrick Thiessen erhält überraschend Besuch in seiner Münchener Werkstatt, von einem Engländer namens Mr Ethan Barris. Mr Barris gesteht, dass er ein Bewunderer von Thiessen-Kuckucksuhren sei und schon geraume Zeit versucht habe, ihn ausfindig zu machen. Ein hiesiger Ladenbesitzer habe ihm schließlich den Weg gewiesen.
    Mr Barris fragt, ob Herr Thiessen an einer speziellen Auftragsarbeit interessiert wäre. Herr Thiessen erwidert, er mache ständig Sonderanfertigungen, und zeigt auf ein Regal mit Varianten der herkömmlichen Kuckucksuhr von schlicht bis reich verziert.
    »Ich weiß nicht recht, ob Sie mich verstehen, Herr Thiessen«, sagt Mr Barris. »Es wäre ein Schaustück, eine Rarität. Ihre Uhren sind beeindruckend, aber mir geht es um etwas wirklich Herausragendes, ein Meisterwerk. Und Geld spielt überhaupt keine Rolle.«
    Neugierig geworden, fragt Herr Thiessen nach näheren Einzelheiten. Er erhält nur wenige Vorgaben. Ein paar Beschränkungen in Bezug auf die Maße (ziemlich großzügig), und sie soll ausschließlich in Schwarzweiß und Grautönen gehalten sein. Darüber hinaus bleibt die Ausführung ihm überlassen. Künstlerische Freiheit, sagt Mr Barris. Das einzige Wort, mit dem er sie charakterisiert, ist »traumhaft«.
    Herr Thiessen erklärt sich einverstanden, und die Männer geben sich darauf die Hand. Mr Barris verspricht, sich zu melden, und ein paar Tage später trifft ein Umschlag mit einer ungeheuren Geldsumme, dem gewünschten Fertigstellungstermin und einer Londoner Lieferadresse ein.
    Zum Bau der Uhr braucht Herr Thiessen fast die ganze mehrmonatige Frist. Er arbeitet kaum an etwas anderem, aber die Bezahlung ermöglicht das problemlos. Wochenlang widmet er sich der Gestaltung und Mechanik. Für die gröberen Holzarbeiten engagiert er einen Gehilfen, um die Feinheiten kümmert er sich selbst. Herr Thiessen ist detailverliebt, und Herausforderungen reizen ihn. Er hängt die gesamte Gestaltung an dem einen Wort auf, das Mr Barris genannt hat. Traumhaft.
    Das fertige Stück ist eine Pracht. Auf den ersten Blick ist es einfach eine große schwarze Standuhr mit weißem Zifferblatt und silbernem Pendel. Schön gearbeitet, keine Frage, mit kunstvollen Schnitzereien an den Rändern und perfekt gemaltem Zifferblatt, aber nichts weiter als eine Uhr.
    Doch nur so lange, bis sie aufgezogen wird. Bis sie anfängt zu ticken und das Pendel in stetem Takt hin und her schwingt. Dann, ja dann verwandelt sie sich.
    Die Veränderungen vollziehen sich langsam. Zuerst wandelt sich die Farbe des Zifferblatts, wechselt von Weiß zu Grau. Dann ziehen Wolken darüber hinweg, die auf der anderen Seite verschwinden.
    Unterdessen schieben sich Elemente des

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