Der Nachtzirkus
oder tu, wonach dir sonst der Sinn steht.« Chandresh winkt ihn zerstreut weg, und der Rauch seiner Zigarre schwebt in sich kräuselnden Wellen in der Luft.
»Wenn Sie darauf bestehen.«
»Das tu ich allerdings! Und wimmel die übrigen Kerle im Foyer ab. Wir müssen uns keinen Haufen Anzüge mit Umhängen ansehen, wenn wir schon etwas viel Interessanteres gefunden haben. Und dazu noch ziemlich attraktiv, wenn man entsprechende Vorlieben hat.«
»In der Tat«, sagt Marco, und eine leichte Röte überzieht seine blassen Wangen. »Bis morgen dann.« Er nickt, verbeugt sich fast, bevor er elegant auf dem Absatz kehrtmacht und in Richtung Foyer hinausgeht.
»Hätte nicht gedacht, dass du so leicht zu verängstigen bist«, ruft Chandresh ihm hinterher, doch Marco dreht sich nicht um.
Marco entlässt höflich die Zauberer im Foyer und erklärt ihnen, die Stelle sei vergeben und man danke ihnen fürs Warten. Keiner von ihnen bemerkt seine zitternden Hände und den Füllfederhalter, den er so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß hervortreten. Und es fällt auch niemandem auf, als der Federhalter in seiner Faust zerbricht und ihm die schwarze Tinte am Handgelenk entlangrinnt.
Nachdem die Zauberer gegangen sind, holt Marco seine Sachen und wischt sich die tintenverschmierte Hand am schwarzen Mantel ab. Dann setzt er seinen Bowlerhut auf und verlässt das Theater.
Mit jedem Schritt wird seine Bestürzung sichtbarer. Die Leute auf dem überfüllten Bürgersteig gehen ihm aus dem Weg.
Als Marco in seiner Wohnung ankommt, lässt er seine Tasche fallen und lehnt sich mit einem schweren Seufzer an die Tür.
»Was ist los?«, fragt Isobel von ihrem Stuhl am leeren Kamin. Sie versteckt die Haarsträhne, die sie gerade geflochten hat, in ihrer Tasche und macht ein finsteres Gesicht, weil sie weiß, dass sie den ganzen Zopf noch einmal flechten muss, da ihre Konzentration unterbrochen wurde. Sich zu sammeln und zu konzentrieren fällt ihr immer noch am schwersten.
Fürs Erste gibt sie es auf und sieht zu, wie Marco durchs Zimmer zu den Bücherregalen an der Wand geht.
»Ich weiß jetzt, wer meine Gegnerin ist«, sagt Marco, zieht mehrere Armvoll Bücher von den Borden und breitet sie ungeordnet auf Tischen aus, manche lässt er auch in schiefen Stapeln auf dem Fußboden stehen. Die im Regal verbleibenden Bände kippen um und einige fallen herunter, aber das scheint er nicht zu merken.
»Ist es die Japanerin, von der du so fasziniert warst?«, fragt Isobel und sieht zu, wie Marcos tadelloses Archiv im Chaos versinkt. Die Wohnung war immer absolut ordentlich, und das plötzliche Durcheinander beunruhigt sie.
»Nein«, sagt Marco und blättert die Seiten durch. »Es ist Prosperos Tochter.«
Isobel hebt ein Topfveilchen auf, das mit den Büchern heruntergefallen ist, und stellt es wieder auf das Regal zurück.
»Prospero?«, fragt sie. »Der Magier, den du in Paris gesehen hast?«
Marco nickt.
»Ich wusste gar nicht, dass er eine Tochter hat.«
»Mir war das auch nicht bekannt«, sagt Marco, legt ein Buch beiseite und nimmt ein anderes zur Hand. »Chandresh hat sie gerade als Zirkusartistin eingestellt.«
»Wirklich?«, fragt Isobel. Marco antwortet nicht. »Sie macht also das Gleiche wie ihr Vater, als Bühnenzauber getarnte echte Magie. Hat sie das bei der Vorführprobe auch gemacht?«
»Allerdings«, sagt Marco, ohne von seinen Büchern aufzublicken.
»Sie ist bestimmt sehr gut.«
»Zu gut.« Marco zieht eine weitere Ladung Bücher von ihren Plätzen und trägt sie zum Tisch, und wieder wird das Veilchen zum unschuldigen Opfer. »Das könnte äußerst problematisch werden«, sagt er vor sich hin. Ein Stapel Notizbücher rutscht in einem Wirbel flatternder Seiten und mit einem Geräusch wie Flügelschlagen vom Tisch.
Isobel rettet das Veilchen erneut und stellt es ans andere Ende des Zimmers.
»Weiß sie, wer du bist?«, fragt sie.
»Ich glaube nicht«, sagt Marco.
»Heißt das, der Zirkus gehört zum Wettstreit?«, fragt Isobel.
Marco hört mit dem Blättern auf und sieht zu ihr hoch.
»Bestimmt«, sagt er und wendet seine Aufmerksamkeit wieder dem Buch zu. »Deshalb sollte ich wahrscheinlich für Chandresh arbeiten, damit ich schon mal einen Einblick bekomme. Der Zirkus ist der Austragungsort.«
»Ist das gut?«, fragt Isobel, aber Marco ist wieder in der Flut von Papier und Tinte versunken.
Mit einer Hand nestelt er an seinem Ärmel herum. Ein schwarzer Tintenklecks verunziert die weiße Manschette.
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