Der Nachtzirkus
entlang. Er trinkt seinen Apfelmost aus und wirft den Becher in einen Mülleimer, in dessen Dunkel er sich anscheinend sofort in Luft auflöst.
Im Gehen liest Bailey die Schilder an den Zelten. Manche sind groß und mit Schnörkeln verziert und beschreiben ausführlich, was es drinnen zu sehen gibt.
Sein Blick bleibt jedoch an einem kleineren Schild hängen, das auch an einem kleineren Zelt hängt. Schwungvoller weißer Schriftzug auf schwarzem Grund.
Illustre Illusionen
Der Eingang steht offen, und eine Schlange von Besuchern tritt der Reihe nach ein. Bailey schließt sich ihnen an.
Innen ist das runde Zelt von schwarzen Eisenleuchtern erhellt, die an den Wänden hängen, und bis auf einen Kreis aus schlichten Holzstühlen leer. Es sind nicht mehr als zwanzig, und sie stehen versetzt in zwei Reihen, so dass man von jedem Platz aus gleich gut sehen kann. Bailey setzt sich dem Eingang gegenüber in die Innenreihe.
Die übrigen Plätze füllen sich schnell, nur zwei bleiben frei: der links neben ihm und einer auf der anderen Seite.
Zwei Dinge fallen Bailey gleich auf.
Zum einen sieht man den Eingang nicht mehr. Dort, wo die Zuschauer hereingekommen sind, befindet sich jetzt eine geschlossene Wand, die scheinbar nahtlos ins Zelt übergeht.
Zum anderen sitzt jetzt links von ihm eine dunkelhaarige Frau im schwarzen Mantel. Bevor die Tür verschwunden ist, saß sie da noch nicht, das weiß er genau.
Doch von beidem wird Bailey abgelenkt, als plötzlich der leere Stuhl gegenüber in Flammen steht.
Sofort bricht Panik aus. Die Zuschauer, die dem brennenden Stuhl am nächsten sitzen, springen von ihren Plätzen auf und stürzen zur Tür, die zu ihrer Verblüffung nicht mehr da ist.
Die Flammen steigen langsam am Stuhl empor, umzüngeln das Holz, das aber nicht zu brennen scheint.
Bailey blickt wieder zu der Frau neben sich. Sie zwinkert ihm zu, steht dann auf und geht in die Mitte. Trotz der Panik ringsum knöpft sie ruhig ihren Mantel auf, zieht ihn aus und wirft ihn mit graziler Geste in Richtung des brennenden Stuhls.
Der schwere Wollmantel verwandelt sich in ein langes schwarzes Seidentuch, das sich in wassergleichen Wellen über den Stuhl ergießt. Die Flammen verschwinden. Nur ein paar Rauchfetzen hängen noch in der Luft und der scharfe Geruch von verkohltem Holz, der langsam in behaglichen Kaminduft mit einem Hauch Zimt oder Nelken übergeht.
Die noch immer in der Mitte stehende Frau zieht das Seidentuch mit Schwung wieder weg, und zum Vorschein kommt ein unversehrter Stuhl, auf dem schneeweiße Täubchen hocken.
Eine weitere schwungvolle Handbewegung, und die schwarze Seide wölbt und faltet sich zu einem Zylinder. Die Frau setzt ihn auf und rundet damit ihr Kostüm ab, ein wie aus dem Nachthimmel geschneidertes Ballkleid – schwarze Seide und weiß glitzernder Strass. Mit einer leichten Verbeugung begrüßt sie ihr Publikum.
Die Illusionistin hat die Bühne betreten.
Einige Zuschauer applaudieren, darunter auch Bailey, während die Geflüchteten mit neugierig-verwirrter Miene auf ihre Plätze zurückkehren.
Es ist eine runde Vorstellung. Die Darbietungen, die Bailey gar nicht wie Zaubertricks vorkommen, gehen fließend ineinander über. Die Tauben verschwinden oft und tauchen dann auf Hüten und unter Stühlen wieder auf. Auch ein schwarzer Rabe ist mit von der Partie, viel zu groß, um ihn heimlich ins Zelt zu schmuggeln. Erst nach einer ganzen Weile begreift Bailey, dass durch die im Kreis aufgestellten Stühle und durch Form und Enge der Räumlichkeit kein Platz für Spiegel oder Lichttricks bleibt. Alles ist unmittelbar und greifbar. Sie verwandelt sogar die Taschenuhr eines Zuschauers in Sand und dann wieder in Metall. Einmal schweben alle Stühle ein Stückchen über dem Boden, und auch wenn es nicht wackelt oder gefährlich wird, hält Bailey sich nervös am Sitz fest.
Am Schluss der Vorstellung verbeugt sich die Zauberkünstlerin mit einer Pirouette vor dem applaudierenden Publikum. Nach vollendeter Drehung ist sie verschwunden. Nur ein bisschen Glitzer flimmert noch durch die Luft, ein Abglanz der Strasssteinchen auf ihrem Kleid.
Die Tür erscheint wieder in der Wand, und die kleine Zuschauerschar verlässt das Zelt. Bailey, der langsam hinterherschlendert, blickt noch ein letztes Mal zurück.
Draußen vor dem Eingang steht nun ein Podest. Es ähnelt dem der Schlangenfrau, aber die Gestalt darauf bewegt sich nicht. Bailey denkt schon, es sei eine Statue in dem pelzgesäumten weißen
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