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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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stützen.
    »Gespürt? Was denn?« Chandresh, der immer noch ganz wacklig ist, antwortet nicht. »Wieso hat keiner daran gedacht, Bänke aufzustellen?«, murrt Tara vor sich hin.
    »Gibt es ein Problem, Miss Burgess?«, fragt eine Stimme hinter ihr. Sie schaut sich um und sieht Marco, mit Notizbuch in der Hand und höchst besorgter Miene.
    »Ach, Marco, da sind Sie ja«, sagt Tara. »Chandresh geht es nicht gut.«
    Sie ziehen schon neugierige Blicke auf sich. Marco bringt Chandresh in eine ruhigere Ecke und stellt sich vor ihn, um ihn notdürftig abzuschirmen.
    »Geht es ihm schon länger so?«, fragt Marco, während er Chandresh stützt.
    »Nein, es kam ganz plötzlich«, antwortet sie. »Ich habe Angst, dass er ohnmächtig wird.«
    »Es ist bestimmt nichts Schlimmes«, sagt Marco. »Vielleicht die Hitze. Ich komme schon zurecht, Miss Burgess. Sie brauchen sich nicht darum zu kümmern.«
    Tara runzelt die Stirn und bleibt zögernd stehen.
    »Es ist nichts Schlimmes«, wiederholt Marco mit Nachdruck.
    Chandresh schaut zu Boden, als hätte er etwas verloren. Von dem Gespräch bekommt er anscheinend nichts mit.
    »Wenn Sie darauf bestehen«, lenkt Tara ein.
    »Er ist in den besten Händen, Miss Burgess.« Ehe sie noch etwas erwidern kann, kehrt Marco ihr den Rücken zu und verschwindet mit Chandresh im Gewühl.
    »Hier bist du!« Lainie taucht neben ihrer Schwester auf. »Ich hab dich überall gesucht. Hast du die Feuerzeremonie gesehen? War das nicht sensationell?«
    »In der Tat.« Tara späht weiter in die Menge.
    »Was ist denn los?«, fragt Lainie. »Ist irgendwas passiert?«
    »Was weißt du über Chandreshs Assistenten?«, fragt Tara zurück.
    »Marco? Nicht gerade viel. Er arbeitet seit ein paar Jahren bei Chandresh, kümmert sich vor allem um die Buchhaltung. Davor war er eine Art Student, glaube ich. Aber was er studiert hat oder wo, weiß ich nicht genau. Besonders gesprächig ist er nicht. Warum fragst du? Mal wieder auf der Jagd nach einer geheimnisvollen, gutaussehenden Eroberung?«
    Trotz ihrer Zerstreutheit muss Tara lachen.
    »Nein, nichts dergleichen. Reine Neugier.« Sie hakt sich bei ihrer Schwester unter. »Komm, wir gehen erst mal auf die Jagd nach anderen Geheimnissen.«
    Arm in Arm schlendern sie durch die Menge, am brennenden Feuer vorbei, dessen tanzende weiße Flammen viele Besucher noch immer fasziniert betrachten.

DER GEHÄNGTE

    In diesem Zelt schweben hoch über dir Menschen. Artisten, Trapezkünstler, Luftakrobaten. Beleuchtet von vielen runden Glühlampen, die an der Zeltdecke hängen wie Planeten oder Sterne.
    Netze sind nicht vorhanden.
    Du siehst die Vorstellung von einem gefährlichen Blickwinkel aus, direkt unter den Künstlern, mit nichts dazwischen.
    Mädchen in gefiederten Kostümen drehen sich in verschiedenen Höhen, aufgehängt an verstellbaren Bändern. Marionetten, die ihre eigenen Strippen ziehen.
    Als Trapeze dienen normale Stühle mit Beinen und Rückenlehnen.
    Gitterkugeln, die an Vogelkäfige erinnern, heben und senken sich, während ein oder mehrere Luftakrobaten
sich vom Inneren nach außen bewegen und oben auf
der Spitze stehen oder unten an den Gitterstäben
hängen.
    In der Zeltmitte hängt ein Mann im Smoking, sein Bein ist an einem silbernen Seil befestigt, die Hände sind hinter dem Rücken verschränkt.
    Er beginnt sich ganz langsam zu bewegen. Streckt die Arme von den Seiten nach vorne, erst einen und dann den zweiten, bis sie über dem Kopf nach unten hängen.
    Er beginnt sich zu drehen. Schneller und schneller, bis er nur noch ein verschwommener Fleck am Ende eines Seils ist.
    Plötzlich hält er inne und fällt.
    Das unter ihm stehende Publikum springt aus dem Weg und räumt eine Stelle aus nacktem, hartem Boden frei.
    Du erträgst es nicht hinzusehen, kannst den Blick aber auch nicht abwenden.
    Dann verharrt er auf Augenhöhe mit dem Publikum. Hängt an dem silbernen Seil, das jetzt unendlich lang wirkt. Der Zylinder sitzt nach wie vor auf seinem Kopf, die Arme liegen ruhig an den Seiten.
    Als die Menge sich wieder fängt, hebt er eine behandschuhte Hand und lüftet den Hut. Dann neigt er sich in der Taille und macht eine dramatische, auf dem Kopf stehende Verbeugung.

Oneiromantie
    CONCORD, MASSACHUSETTS, OKTOBER 1902
    D en ganzen Tag sehnt Bailey den Sonnenuntergang herbei, doch die Sonne bleibt stur und zieht wie gewohnt ihre Bahn über den Himmel. Sonst denkt Bailey über Zeit nicht nach, aber heute vergeht sie quälend langsam. Fast wünscht er

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