Der Nachtzirkus
Kleid, das in üppigen Volants bis auf den Boden fließt. Ihr Haar und ihre Haut, selbst ihre Wimpern sind eisig weiß.
Doch sie bewegt sich. Ganz, ganz langsam. So langsam, dass Bailey keine einzelnen Bewegungen wahrnimmt, sondern nur leichte Veränderungen. Zarte Schneeflocken fallen schillernd von ihr herab, wie Blätter von einem Baum.
Bailey geht um sie herum und betrachtet sie von jeder Seite. Sie folgt ihm mit den Augen, ohne mit den schneebesetzten Wimpern zu blinzeln.
Am Podest hängt eine vom Kleid halb verdeckte kleine Silberplakette.
Zum Gedenken steht darauf, aber nicht, an wen.
Spielregeln
1887 – 1889
S eit der Zirkus seinen normalen Betrieb aufgenommen hat und lernt, »auf eigenen Beinen zu stehen« – so Chandresh bei einem Essen kurz nach der Eröffnung –, finden die Zirkusdinner nicht mehr so oft statt. Die ursprünglichen Mitstreiter treffen sich zwar nach wie vor gelegentlich zum Essen, besonders wenn der Zirkus in der Nähe gastiert, doch das ist inzwischen immer seltener geworden.
Mr A. H— erscheint trotz der ständigen Einladung gar nicht mehr.
Da diese Treffen die einzige Gelegenheit für Marco waren, seinen Lehrmeister zu sehen, ärgert ihn dessen fortwährendes Ausbleiben.
Nach einem Jahr ohne Lebenszeichen, ein einziges Wort oder auch nur einen kurzen Blick auf den grauen Zylinder, beschließt Marco, ihn aufzusuchen.
Den gegenwärtigen Wohnsitz seines Lehrmeisters kennt er nicht, und er geht zu Recht davon aus, dass es sich um eine vorübergehende Bleibe handelt. Bis Marco die richtige Adresse herausgefunden hätte, wäre der Mann im grauen Anzug längst in eine neue, ebenso wenig dauerhafte Wohnung gezogen.
Deshalb zeichnet Marco eine Reihe von Symbolen an die reifüberzogene Scheibe seines zur Straße gehenden Wohnungsfensters und benutzt dabei die Säulen des Museums als Orientierungshilfe. Die meisten Symbole sind nur erkennbar, wenn das Licht im richtigen Winkel daraufscheint, aber zusammen ergeben sie ein großes A .
Am nächsten Tag klopft es an die Tür.
Der Mann im grauen Anzug weigert sich wie immer hereinzukommen. Er steht nur im Flur und fixiert Marco mit kühlem grauem Blick.
»Was willst du?«, fragt er.
»Ich möchte gern wissen, ob ich meine Sache gut mache«, antwortet Marco.
Sein Lehrmeister sieht ihn mit gewohnt unergründlicher Miene an.
»Du hast deine Arbeit ordentlich gemacht«, sagt er.
»Geht die Prüfung denn so weiter?«, fragt Marco. »Damit, dass jeder von uns den Zirkus manipuliert? Wie lange soll das so gehen?«
»Man hat dir einen Rahmen zugewiesen, in dem du arbeiten kannst«, antwortet sein Lehrmeister. »Du zeigst deine Fähigkeiten, so gut du kannst, und deine Gegnerin tut dasselbe. Ihr mischt euch nicht in die Arbeit des anderen ein. Auf die Art geht es weiter, bis ein Sieger feststeht. Das ist nicht besonders kompliziert.«
»Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich die Regeln verstehe«, sagt Marco.
»Du musst die Regeln nicht verstehen. Du musst sie nur befolgen. Wie gesagt, du hast deine Arbeit ordentlich gemacht.«
Er wendet sich zum Gehen, zögert dann jedoch.
»Tu das nie wieder.« Er zeigt auf das eisbedeckte Fenster hinter Marco.
Dann dreht er sich um und geht.
Die Symbole auf der Scheibe lösen sich in bedeutungslose Streifen auf.
*
Es ist mitten am Tag, fast alle im Zirkus schlafen ruhig. Nur Celia Bowen steht vor dem Karussell und beobachtet die schwarzen, weißen und silbernen Tiere, die an Bändern aufgehängt passagierlos an ihr vorbeidefilieren.
»Mir gefällt das Ding nicht«, sagt eine Stimme hinter ihr.
In dem spärlich beleuchteten Zelt ist Hector Bowen kaum mehr als ein Gespenst. Sein dunkler Anzug verschwindet im Schatten. Das flirrende Licht lässt sein helles Hemd und sein graues Haar changieren und hebt die missbilligende Miene in seinem Gesicht hervor, mit der er das Karussell über die Schulter seiner Tochter hinweg betrachtet.
»Warum denn nicht?«, fragt Celia, ohne sich umzudrehen. »Es ist äußerst beliebt. Und es hat sehr viel Arbeit gekostet; das sollte doch etwas wert sein, Papa.«
Sein verächtliches Schnauben ist nicht annähernd so laut und boshaft wie früher, und Celia ist froh, dass er ihr Lächeln über seine Schwäche nicht sieht.
»So leichtsinnig bist du nur, weil ich …« Er verstummt und macht mit seiner durchsichtigen Hand eine wegwerfende Bewegung.
»Sei mir deswegen nicht böse«, sagt Celia. »Das hast du dir selbst angetan. Ich kann nichts dafür, dass es nicht
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