Der Nachtzirkus
Karamell und noch etwas, das er nicht einordnen kann.
Wo soll er anfangen? Es gibt so viele Zelte, so viele Möglichkeiten. Am besten, er sieht sich erst einmal um.
Wenn er einfach nur durch den Zirkus spaziert, hat er vielleicht auch größere Chancen, dem rothaarigen Mädchen zu begegnen, denkt er, obwohl er sich nicht eingestehen will, dass er nach ihr sucht. Schließlich wäre es albern, jemanden zu suchen, den er nur ein einziges Mal gesehen hat, und das vor Jahren und unter höchst seltsamen Umständen. Es gibt keinen Grund, warum sie sich an ihn erinnern oder ihn wiedererkennen sollte, zumal er sich nicht mal sicher ist, ob er selbst sie noch erkennen würde.
Er beschließt, mitten durch den Zirkus zu gehen, über den Platz mit dem Feuerkessel bis ans andere Ende, und sich dann zurückzuarbeiten. Vielleicht herrscht weiter hinten auch weniger Gedränge.
Aber zuerst möchte er einen heißen Apfelmost. Es dauert nicht lang, bis er den richtigen Stand findet. Er bezahlt das dampfende Gebräu in dem schwarzweiß marmorierten Becher und fragt sich vor dem ersten Schluck kurz, ob es wohl so gut schmeckt wie in seiner Erinnerung. Unzählige Male hat er sich den Geschmack ins Gedächtnis gerufen, und obwohl die Gegend apfelreich ist, war kein Cider – ob gewürzt oder nicht – je wieder so köstlich. Nach einigem Zögern nippt er ganz vorsichtig. Er schmeckt sogar noch besser, als er ihn in Erinnerung hatte.
Auf einem Pfad zwischen den Eingängen der umliegenden Zelte trifft Bailey auf eine kleine Gruppe, die sich um ein erhöhtes Podest versammelt hat. Auf dem Podest steht eine Frau in einem hautengen silber-schwarzen Kostüm mit Schnörkelmuster. Sie verdreht und verbiegt sich so sehr, dass es furchtbar und anmutig zugleich aussieht. Bailey bleibt stehen und schaut zu, obwohl es beinahe weh tut.
Die Schlangenfrau hebt einen kleinen Silberreifen vom Boden auf und schwenkt ihn mit ein paar einfachen, aber eindrucksvollen Gesten durch die Luft. Dann reicht sie ihn einem Mann vorn in der Menge, um zu demonstrieren, wie stabil er ist. Als der Mann ihr den Reifen zurückgibt, schlüpft sie in tänzerisch-fließenden Bewegungen mit ihrem ganzen Körper hindurch.
Nachdem sie den Reifen abgelegt hat, stellt sie einen kleinen Kasten in die Mitte des Podests.
Er sieht aus, als messe er höchstens dreißig mal dreißig Zentimeter, obwohl er in Wahrheit etwas größer ist. Es wäre schon ein Kunststück, wenn eine ausgewachsene (wenn auch unterdurchschnittlich kleine) Frau sich in ein so enges Behältnis zwängen würde, aber in diesem Fall ist es umso beeindruckender, weil der Kasten vollkommen transparent ist.
Die Einfassung besteht aus schwärzlich angelaufenem Metall, aber Wände und Deckel sind aus durchsichtigem Glas, so dass die Schlangenfrau die ganze Zeit zu sehen ist, während sie sich biegt und verrenkt und in den winzigen Raum hineinfaltet. Sie geht langsam vor, macht aus jeder kleinen Bewegung einen Teil der Darbietung, bis sie von Kopf bis Fuß in dem Kasten steckt und nur noch eine Hand oben herausragt. Was Bailey von seinem Platz aus sieht, ist unglaublich: hier ein Stück Bein, da eine Schulterpartie, und unter dem Fuß ein Teil des anderen Arms.
Die Hand, die noch draußen ist, winkt fröhlich und zieht dann den Deckel zu. Der Riegel schnappt automatisch ein, der Kasten ist unbestreitbar verschlossen und die Schlangenfrau eindeutig darin gefangen.
Und dann füllt sich der Glaskasten langsam mit weißem Rauch. Er kringelt sich durch die kleinen, nicht von Rumpf und Gliedern ausgefüllten Lücken und quillt durch die Finger der ans Glas gepressten Hände.
Immer dichter wird der Rauch und nebelt die Schlangenfrau ganz ein. Man sieht nur noch weißen Qualm in dem Kasten, der in Kräuseln und Wellen gegen das Glas wogt.
Auf einmal bricht der Kasten mit einem Knacken auseinander. Die Glaswände fallen zur Seite und der Deckel nach unten. Rauchschwaden steigen in die Nachtluft. Der Kasten oder vielmehr der kleine Glashaufen auf dem Podest, der mal ein Kasten war, ist leer. Die Schlangenfrau ist verschwunden.
Die Menge wartet eine Weile, aber nichts geschieht. Der letzte Rauch verfliegt, die Menge zerstreut sich allmählich.
Bailey fragt sich, ob die Schlangenfrau irgendwie im Podest versteckt ist, und schaut es sich im Vorbeigehen näher an, aber es ist ganz aus Holz und unten offen. Sie ist spurlos verschwunden, obwohl sie eindeutig nirgends hinkonnte.
Bailey läuft weiter den gewundenen Pfad
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