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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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Bemerkungen, wie sehr sie ihn und die Stadt vermisst.
    Dann berichtet sie pflichtbewusst vom Zirkus, allerdings so sachlich und nüchtern, dass sich für ihn kein umfassendes Bild daraus ergibt. Dinge, die sie für banal hält – wie das Reisen und den Zug –, streift sie nur am Rande, obwohl Marco sicher ist, dass sie nicht nur mit dem Zug unterwegs sind.
    Trotz der Verbindung über Papier und Tinte fühlt Marco sich dem Zirkus immer ferner.
    Außerdem erfährt er so wenig von ihr . Isobel schreibt nie ihren Namen in die Briefe, spricht von ihr immer nur als der Zauberin, eine Vorsichtsmaßnahme, zu der er selbst geraten hatte und die er jetzt bereut.
    Er möchte alles über sie wissen.
    Wie sie ihre Freizeit verbringt.
    Wie sie mit ihrem Publikum interagiert.
    Wie sie ihren Tee trinkt.
    Er bringt es nicht über sich, Isobel solche Fragen zu stellen.
    Wenn er ihr antwortet, bittet er sie, weiterhin möglichst oft zu schreiben, und betont, wie viel ihre Briefe ihm bedeuten.
    Dann nimmt er die mit ihrer Handschrift gefüllten Seiten, Beschreibungen von gestreiften Zelten und sternenübersäten Himmeln, und faltet sie zu Vögeln, die er in der leeren Wohnung herumfliegen lässt.
    *
    Es kommt nicht oft vor, dass ein neues Zelt auftaucht. Deshalb überlegt Celia, ob sie ihre Vorstellungen ganz streichen und stattdessen den Abend mit seiner Erkundung verbringen soll.
    Doch sie wartet und absolviert ihre übliche Zahl an Auftritten. Den letzten beendet sie wenige Stunden vor Tagesanbruch. Erst dann geht sie die fast menschenleeren Pfade entlang, um die neueste Errungenschaft des Zirkus zu besuchen.
    Das Schild verkündet einen sogenannten Eisgarten, und der darunter stehende Zusatz – eine Entschuldigung für etwaige wärmetechnische Unannehmlichkeiten – entlockt Celia ein Lächeln.
    Trotz des Namens ist sie nicht darauf vorbereitet, was sie im Inneren erwartet.
    Es ist zwar genau das, was auf dem Schild steht. Aber es geht noch weit darüber hinaus.
    An den Zeltwänden sind keine Streifen zu sehen, alles ist glitzernd und weiß. Wie weit der Garten sich erstreckt, ist schwer zu sagen, denn die Sicht wird durch herabhängende Trauerweiden und wuchernde Kletterpflanzen verdeckt.
    Selbst die Luft scheint verzaubert. Beim Einatmen ist sie frisch und süß in der Lunge, und ein Schauder, der nicht nur durch den angekündigten Temperatursturz verursacht ist, fährt ihr bis in die Zehen.
    Im Zelt sind keine weiteren Besucher. Celia kreist allein um die Spaliere mit den blassen Rosen und einen leise sprudelnden, kunstvoll gemeißelten Springbrunnen.
    Bis auf einige wie Girlanden aufgehängte weiße Seidenbänder ist alles aus Eis.
    Neugierig pflückt Celia eine gefrorene Pfingstrose von ihrem Stiel, der sich mühelos abknicken lässt. Doch die Blütenblätter zersplittern, fallen ihr aus den Fingern und verschwinden in den elfenbeinfarbenen Grashalmen auf dem Boden. Als sie wieder zum Stängel blickt, ist bereits eine identische Blüte nachgewachsen.
    Die Zaubermacht und das Geschick, die vonnöten sind, um etwas Derartiges zu schaffen und zu erhalten, übersteigen Celias Phantasie.
    Nur zu gern wüsste sie, wie ihr Gegner auf diese Idee gekommen ist. Ihr ist klar, dass jede perfekt geschnittene Hecke, jede Einzelheit bis hin zu den Steinen, die wie Perlen am Wegrand liegen, sorgfältiger Planung bedurften.
    Wenn sie etwas Vergleichbares zustande bringen wollte, müsste sie so viel Mühe aufwenden, dass allein der Gedanke daran sie schon erschöpft. Fast wünscht sie ihren Vater herbei, denn langsam begreift sie, warum er immer so darauf gepocht hat, dass sie ihre Kraft und Beherrschung trainiert.
    Allerdings weiß sie nicht so recht, ob sie ihm dafür danken möchte.
    Sie genießt es, den Garten für sich allein zu haben, die friedliche Stille, versüßt vom zarten Duft der gefrorenen Blumen.
    Celia bleibt noch weit bis nach Sonnenaufgang, als das Zirkustor geschlossen ist, in dem Eisgarten.
    *
    Der Zirkus kommt nach langer Zeit wieder einmal in die Nähe von London, und am Nachmittag vor der Eröffnung klopft jemand an Marcos Wohnungstür.
    Er öffnet sie nur einen Spaltbreit, auch als er Isobel im Flur stehen sieht.
    »Du hast die Schlösser ausgewechselt«, sagt sie.
    »Warum hast du mir nicht geschrieben, dass du kommst?«, fragt Marco.
    »Ich dachte, du lässt dich vielleicht gern überraschen«, antwortet Isobel.
    Marco bittet sie nicht herein, sondern lässt sie draußen im Flur warten, bis er mit dem Bowlerhut in

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