Der Nachtzirkus
sich, es wäre ein Schultag, dann gingen die Stunden schneller vorbei. Er überlegt, ob er sich hinlegen soll, aber zum Schlafen ist er viel zu aufgeregt.
Das Abendessen verläuft wie seit Monaten in ausgedehntem Schweigen, das nur von Unterhaltungsversuchen seiner Mutter und Carolines gelegentlichen Seufzern unterbrochen wird.
Seine Mutter erwähnt den Zirkus, genauer gesagt den Besucherstrom, den er anlocken wird.
Bailey erwartet, dass darauf wieder Schweigen folgt, aber Caroline spricht ihn an.
»Als der Zirkus letztes Mal hier war, haben wir da nicht Wahrheit oder Pflicht gespielt und dich reingeschickt, Bailey?« Sie fragt neugierig und leichthin, so als wisse sie es wirklich nicht mehr.
»Was, tagsüber?«, fragt seine Mutter. Caroline nickt flüchtig.
»Ja«, antwortet Bailey leise und wünscht sich das beklemmende Schweigen zurück.
»Bailey!« Aus dem Mund seiner Mutter klingt sein Name wie eine vorwurfsvolle Ermahnung. Bailey versteht nicht, warum sie ihm die Schuld gibt, schließlich hat er sich die Pflicht nicht ausgedacht. Er will schon protestieren, da sagt Caroline, als fiele ihr nun alles wieder ein: »Ach, er hat es doch gar nicht gemacht.«
Bailey zuckt nur die Schultern.
»Das will ich auch hoffen«, sagt seine Mutter.
Es herrscht wieder Schweigen, und Bailey sieht nachdenklich aus dem Fenster. Er überlegt, was »Einbruch der Nacht« wohl genau bedeutet? Am besten, er ist beim ersten Anzeichen der Dämmerung am Tor – notfalls wartet er eben. Es kribbelt ihm schon in den Füßen. Hoffentlich kommt er bald weg.
Es dauert endlos, bis der Tisch abgeräumt ist, eine Ewigkeit, bis sie mit dem Abwasch fertig sind. Caroline verschwindet auf ihr Zimmer, und sein Vater holt die Zeitung hervor.
Bailey wickelt sich den Schal um. »Wo willst du hin?«, fragt seine Mutter.
»Zum Zirkus«, antwortet er.
»Komm nicht so spät wieder. Du musst noch arbeiten.«
»Ja.« Bailey ist froh, dass sie keine Uhrzeit genannt hat. Und »spät« ist schließlich ein dehnbarer Begriff.
»Und nimm deine Schwester mit.«
Da er sich nicht unbemerkt allein davonstehlen kann, klopft er an Carolines halboffene Tür.
»Hau ab«, empfängt sie ihn.
»Ich geh zum Zirkus, falls du mitmöchtest«, sagt Bailey in gelangweiltem Ton. Ihre Antwort kennt er schon.
»Nein«, sagt sie, so vorhersehbar wie das Schweigen beim Abendessen. Mit verächtlichem Blick fügt sie hinzu: »Wie kindisch.«
Bailey geht ohne ein weiteres Wort aus dem Haus und lässt die Tür vom Wind hinter sich zuschlagen.
Die Sonne beginnt gerade zu sinken, und es sind mehr Leute unterwegs als sonst um diese Zeit, alle in die gleiche Richtung.
Langsam lässt Baileys Aufregung nach. Vielleicht ist es wirklich kindisch. Vielleicht wird es nicht mehr so wie früher.
Auf der Wiese hat sich schon eine Menschenmenge versammelt. Zu Baileys Erleichterung sind darunter auch viele Gleichaltrige und Erwachsene, und nur ein paar haben Kinder dabei. Zwei Mädchen in seinem Alter versuchen kichernd, seine Aufmerksamkeit zu erregen, als er an ihnen vorbeigeht. Ob es ihm schmeicheln soll, weiß er nicht.
Bailey sucht sich einen Platz in der Menge und blickt wartend auf das geschlossene Eisentor. Ob der Zirkus anders sein wird, als er ihn in Erinnerung hat?
Im Hinterkopf spukt ihm noch eine Frage herum: ob irgendwo hinter dem Zaun auch das rothaarige Mädchen in Weiß zu finden ist.
Die orangeroten Strahlen der tiefstehenden Sonne tauchen den Zirkus und alles um ihn herum in Flammen, bis das Licht ganz verschwindet. Schneller, als Bailey erwartet hat, vollzieht sich der Übergang von Feuerrot zum Halbdunkel, und dann flackern überall an den Zelten die Zirkuslichter auf. Ein anerkennendes Raunen geht durch die Menge, aber ganz vorn halten ein paar Leute überrascht die Luft an, als am großen Schild über dem Tor knisternd die Funken sprühen. Bailey muss unwillkürlich lächeln, als es in vollem Glanz erstrahlt und leuchtet wie ein Signalfeuer: Le Cirque des Rêves.
Während der Tag sich schleppend dahinzog, bewegt sich die Schlange am Zirkuseingang bemerkenswert rasch voran, und schon bald steht Bailey am Kassenhäuschen und kauft eine einzelne Eintrittskarte.
Der verschlungene, sternengesprenkelte Pfad kommt ihm endlos vor, während er sich die dunklen Windungen entlangtastet und sehnsüchtig auf das helle Licht am Ende wartet.
Als er endlich an den beleuchteten Platz kommt, ist sein erster Gedanke, dass es genauso riecht wie damals – nach Rauch und
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