Der Nächste, bitte! 13 Morde fürs Wartezimmer
Schlitze. Augen, die sie nie wieder vergessen würde. Denn was dann geschah, brannte sich tief in Manuelas Kinderseele ein.
Der Mann sprach nicht. Erst, als er sie gehen ließ, drohte er: „Wenn du jemandem verrätst, was hier passiert ist, dann ist dein Hund tot.“
Verstört kehrte Manuela an diesem Tag zur gewohnten Zeit mit Ben zurück nach Hause. Ihre Mutter war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie die Veränderung ihrer Tochter bemerkt hätte. Außerdem war sie schon wieder betrunken.
Manuela weinte. Leise und unbemerkt weinte Manuela an diesem Abend zum letzten Mal für viele Jahre. Einzig Ben war bei ihr. Und Ben war es wert zu schweigen.
Durch all die kommenden Jahre rettete Manuela ihren Hund. Ihre Mutter kündigte oft an, er müsse weg, sie könnten sich einen Hund nicht länger leisten. Manuela trug Werbung aus, um das Geld für Hundefutter und die erforderlichen Impfungen zu verdienen. Und wenn sie vor der Wahl stand, Hundekuchen oder Gummibärchen, weil das Geld für beides nicht reichte, dann nahm sie die Hundekuchen.
Manuela schaffte einen vernünftigen Schulabschluss, begann mit sechzehn eine Ausbildung und bezog schließlich mit Ben eine eigene kleine Wohnung.
Und nun stand sie hier in diesem Flur. Fühlte, wie ihr der Boden unter den Füßen genommen war. Ihr Halt. Verloren.
Manuela entgegnete nichts. Sie schob sich an dem Arzt vorbei in den Operationssaal. Dort lag er, ihr Freund Ben. Sanft und friedlich, als würde er schlafen. Manuela kniete sich zu ihm. Strich vorsichtig über das warme, schwarzbraune Fell. Vermisste dabei, dass er seinen massigen Kopf hob und ihr die Hände ableckte. Als sie sich bewusst machte, dass er nie wieder ihre Hände ablecken würde, spürte Manuale Tränen aufsteigen. Sie vergrub ihr Gesicht zwischen seinen Ohren. Sog noch einmal seinen Duft ein. Ein bisschen Heu, ein bisschen nasse Erde, ein bisschen Hund. Jetzt schwang noch der Geruch von Desinfektionsmittel mit.
„Danke, Ben.“ Weinend nahm Manuela Abschied. Dann stand sie auf, beglich die Rechnung, verließ die Tierklinik und ging zur Polizei.
„Der Nächste, bitte!“
Einige der Wartenden waren ins Gespräch vertieft. Schwester Lona schnappte ein paar Brocken der Unterhaltung auf: „Hast Du es schon gehört? Die alte Frau Wildenbroich wurde eingeliefert. Sie hatte einen Schwächeanfall.“
„Na ja. In ihrem Alter ja nichts Ungewöhnliches.“
„Ja. Und bei ihrem Schicksalsschlag hat sie sich noch tapfer geschlagen, all die Jahre…“
Scheinheilig
Er war gerne hier. Der Friedhof war für ihn ein Ort, wo er abschweifen konnte in die Vergangenheit, wo er in Erinnerungen schwelgen konnte. Ein Ort des Nachdenkens, ein Ort des Besinnens – ja manchmal sogar auch ein Ort des Bedauerns. Sein Leben war anders als das vieler seiner früheren Freunde. Er lebte alleine, und er kam ganz gut klar damit.
Es hatte ihm nichts ausgemacht, als sich bei der Testamentseröffnung herausstellte, dass er für die Dauer der Liegezeit dazu verpflichtet sein würde, das Grab seiner Großmutter zu pflegen. Dafür erbte er ihr gesamtes Hab und Gut nebst Haus und Grundstück.
Er war sehr zufrieden mit seinem Erbe. Die Ersparnisse der Großmutter hatten für die Beisetzungskosten locker gereicht, und ein feiner Gebrauchtwagen war auch noch für ihn herausgesprungen. Und das trotz Haussanierung. Was brauchte ein Mann schon mehr? Die Frau seines Lebens – die hatte er lange schon verloren.
Als er Schritte auf dem Kiesweg vernahm, blickte er auf. Die alte Dame, die sich auf einen Gehstock gestützt näherte, erkannte er sofort. Unwillkürlich musste er lächeln. Frau Wildenbroich. Er wusste genau, wohin sie ging. Denn hier ganz in der Nähe lag ihre einzige Tochter begraben. Sarah. Und das bereits seit mehr als achtzehn Jahren.
Frau Wildenbroich grüßte zwar kurz freundlich im Vorbeigehen, doch sie grüßte einen Fremden. Sie war vergesslich geworden, in den letzten Jahren. Ein erstauntes Lächeln huschte daher kurz über ihr Gesicht, als er entgegnete: „Guten Abend, Frau Wildenbroich!“ Die alte Dame nickte ihm erneut zu, warf dabei einen flüchtigen Blick auf den Grabstein vor ihm und ging weiter. Er kannte ihr Ziel, von hier aus konnte man das Grab ihrer Tochter gut sehen.
Er versuchte, sich wieder in seine Arbeit zu vertiefen. Es wurde Herbst, und die verblühten Sommerblumen mussten vom Grab entfernt werden. Als er kurze Zeit später wieder aufsah, richtete er seinen Blick ohne
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