Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
jedes Detail dieser Geschichte, die
in einem gesonderten Kapitel im
Buch der Erleuchtung
niedergelegt war, einem Kapitel, das niemals zu Ende gehen würde, denn es wurde in jedem Jahr
ergänzt durch einen Rückblick auf die Arbeit der Liga, der an alle Atmas verschickt wurde und fortan als offizielle Liga-Historie galt. Sally folgte
unbeirrbar dem Faden ihres Vortrags, mit sicher gesetzten Worten, die den Eindruck erweckten, als habe sie jede Einzelheit, die sie von sich gab, selbst
miterlebt, als sei sie am Sterbebett von Mahaguru Howard Jason gesessen oder habe persönlich mit Mahaguru Ken Andersen die Zukunftspläne der Liga
besprochen. Aron kannte diese blinde Selbstsicherheit nur zu gut. Auch er hatte sie ausgestrahlt. Sie war ein Gefühl umfassender Befriedigung, die Wahrheit
ein für alle Mal in ihrer ganzen Tiefe erkannt zu haben, eine Haltung, die von jedem Absolventen der Akademie als zwingende Voraussetzung für eine Karriere
in der Organisation erwartet wurde. Das Schulungssystem der Liga lief darauf hinaus, diesen Glauben felsenfest zu etablieren und den Liga-Nachwuchs von
jedem Zweifel an den Idealen der Lehre zu entbinden. Sally war ein bestens geglücktes Produkt dieser Erziehung, ebenso wie Aron eines war. Wenn er nach
Deutschland zurückkehrte, würden die Ergebnisse der Prüfungen vorliegen. Es gab keinen Zweifel, dass er sie bestanden hatte, es ging nur noch darum, wie
weit oben er in der Rangliste der Absolventen stand. Die Prüfungsergebnisse wurden vom Computer des Hauptquartiers nach einem komplizierten Punktesystem
ausgewertet, das eine exakte Einordnung der Prüflinge zuließ. Messbare Leistung galt seit Kurzem als wichtiges Kriterium bei der Beurteilung von Atmas. Es
gab Bewertungsbögen in den lokalen Zentren und Akademien, selbst die Mitarbeiter des Hauptquartiers unterlagen einer ständigen strengen Prüfung, die selbst
vor ihrem privaten Leben nicht haltmachte. In einem Wahrheitsbrief hatte der Mahaguru die unaufhörliche Selbstprüfung und, daraus abgeleitet, die Bewertung
durch neutrale Dritte, als wichtiges Werkzeug auf dem Weg zur Erleuchtung dargestellt. „Alles ist messbar, auch die spirituelle Entfaltung,“ hatte er
geschrieben. Im Computer des Hauptquartiers wurden die Daten aller Atmas gespeichert und konnten nach unzähligen Schlüsseln abgefragt werden. Jeder
Vortrag, den ein Atma hielt, jeder Schulungskurs, den er absolvierte, jedes Sondertraining, das er belegte, jede Benotung an einer Akademie, jede Arbeit,
die er für die Liga leistete, floss in diese persönliche Akte ein und zählte auf dem Weg zur nächsten Einweihung, zur höheren Position in der Organisation.
Jeder Bericht, den ein Lirep oder Missionsleiter oder ein anderer Funktionär über einen Atma ans Hauptquartier schickte, beeinflusste die Bewertung,
entweder positiv oder negativ. Selbst Daten über den Lebenswandel des Atma, über seine Biografie, seine Hobbys, seine Familienverhältnisse, sein
Berufsleben, seine Talente, sein Verhalten innerhalb seines Liga-Zentrums schlugen sich in den Akten nieder. Aron hatte oft mit Ben darüber diskutiert. Ben
war mit dieser Überwachung, wie er es nannte, nicht einverstanden, doch Aron war überzeugt, dass nur schonungslose Selbstreinigung und Selbstaufgabe zu dem
hohen egolosen Bewusstsein der letzten Einweihungsstufen der Liga führen könne. Wer reinen Herzens war, hatte nichts zu verbergen. Nur wer seine Fehler und
Defekte klar erkannte, konnte sie in den entsprechenden Schulungen deprogrammieren und in spirituelle Erfolgsenergien umwandeln. Aron entsprach den
Erwartungen, welche die Liga in ihre Akademiestudenten setzte, er wusste, dass seine Akte im Hauptquartier mustergültig war, dass seinem Aufstieg in den
Rängen der Liga nichts im Weg stand. Und doch spürte er jetzt, dass die Makellosigkeit seiner Daten nicht mehr mit seiner inneren Verfassung
übereinstimmte. Schein und Wirklichkeit hatten sich wie ein Abziehbild voneinander gelöst und entfernten sich mit jedem Tag weiter. Seine Vergehen gegen
die Ethik der Liga zogen ihm durch den Kopf, während Sally dem Publikum die hohen spirituellen Fähigkeiten der Mahagurus nahebrachte. Selbst Vorträge über
die Geschichte der Liga endeten stets in Lobeshymnen auf den Mahaguru und das Hju. Bens Tonband, das er vor Crapp und den Ethik-Hütern verschwiegen hatte,
die Begegnung mit Walt Mason, sein Gefühl der Vertrautheit mit diesem Mann, der schrecklicher Dinge verdächtigt wurde,
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