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Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)

Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Der Name der Finsternis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Binder
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des Waldes. Ein Himmel war der Abgrund des Dunkel nun. Sternübersät spannte
    er sich über den Krater, in dessen Mitte das lodernde Bildnis stand, riesig, bis zur Höhe der Bäume emporwachsend, huschenden Feuerschein in die Nacht
    speiend. Menschenmengen drängten sich vor dem steinernen Kopf, auf Knien liegend, bewegt in einem Strom von Gebeten und greller, dissonanter Musik. Vor
    ihnen aber, auf einem Ehrenplatz, umgeben von dunkel gewandeten Priestern, saß er, Aron, in einem fremden Körper, aufgeputzt in prunkvollem Ornat. Er
    spürte das Feuer dieses Gottes in seinem eigenen Herzen wie in einem Spiegel. Gebannt starrte er in das zuckende Meer der Flammen. Das Wabern der Glut, das
    Stieben der Funken zerrann in ein Mosaik unzähliger Bilder, die wirr durcheinander flackerten, sich überlagerten, vermischten, ineinanderflossen, zu neuen
    Formen schmolzen. Es war ihm, als sehe und empfinde er alles gleichzeitig, als webe sich ein verworrenes Gespinst von Eindrücken in ihm, ein Kokon
    wirbelnder Bildsplitter, der ihn einzuhüllen begann, und doch stand ein Zentrum der Wahrnehmung unberührbar still in ihm, schöpfte einzelne Bilder aus dem
    reißenden, überflutenden Strom, Bilder, die sich ruhig entfalteten und ihren Sinn preisgaben. Aron betrachtete sie wie langsam ablaufende Filme. Etwas in
    ihm wusste, dass es Erinnerungen waren, die aus verborgenen Speichern des Herzens flossen, um jetzt, für Augenblicke nur, zu neuem Leben zu erwachen.
    Zugleich waren sie so stark, dass es schien, als seien sie die einzig gültige Wirklichkeit, als sei die Zeit aufgehoben, diese Illusion, die zwischen
    Gewesenem und Kommenden unterscheidet. Alles war jetzt. Es gab keine Vergangenheit, keine Zukunft. Aron lachte über diese Erkenntnis, die ihm Überlegenheit
    über die beschränkten Vorstellungen der Menschen schenkte, zugleich aber füllte sie ihn mit entsetzlicher Angst, denn die Erscheinungen längst verlorener
    Vergangenheit, die er nun sah und neu durchlebte, brachten solches Grauen, dass er sie verzweifelt fortzudrängen suchte. Doch es gab keine Lider mehr, die
    er hätte schließen können. Wohin er sich wandte, fand er die gleichen Bilder in sich lebendig, als hätte es nie ein Vergessen gegeben.
    Eine Frau sah er durch den Feuerschlund des steinernen Bildes schreiten, schwebend leicht, die zierlichen Füße in Glut getaucht. Aus der Tiefe des
    Götzenbildes erschien sie, mitten im Flammenrachen, vom Raunen der betenden Menschen begrüßt.
    Einen niedrigen, holzgetäfelten Raum sah er, geschmückt mit kostbaren Intarsien und Malereien. Ein Mann schritt dort auf und ab, ein altersloser, in
    jugendlicher Kraft gespannter Greis mit schneeweißem Bart und dunklen Augen, in denen das kalte Feuer des Götterbildes glomm, vernichtende, erbarmungslose
    Macht. Den Mond sah er durch ein niedriges Fenster, eine blutige Kugel im Grau der Morgendämmerung über einem Garten.
    Endlos sich dehnende, dichte Wälder sah er, Gebirge hinter ihnen, das Eis der Gletscher, ein Tal, sich verengend zur Schlucht, eine schwarze, hoch
    aufragende Felsnadel in der wehenden Gischt eines Wasserfalls.
    Menschen sah er, die er liebte, begehrte, fürchtete, hasste, ein Kaleidoskop von Gesichtern, von denen jedes sein Herz mit Speeren zu durchbohren schien:
    die Frau, die den Rachen des Feuers durchschritten hatte, die ihm vermählt wurde von dem weißbärtigen Greis, doch die ihn verächtlich belauerte mit ihren
    schmalen grünen Katzenaugen; eine andere, dunkel wie Ebenholz, die ihm als Sklavin gehörte, doch die er liebte, an die er sich klammerte in panischer
    Angst, ein Geheimnis, ein gefährlicher Betrug, der ihn schützte, könne offenbar werden; einen Jüngling in ärmlichen Kleidern, ihm scheu und ergeben
    zugewandt, der erst argloser Spielball seiner Launen schien, dann aber emporwuchs zu gefährlicher Stärke, zu einem Todfeind, dessen Leben der brennende
    Gott forderte; einen Krieger, stolz und herablassend, dessen Anblick zähen, von Furcht geschürten Hass erweckte und zugleich bittere Trauer; und immer von
    Neuem die Augen des Alten, die ihn durchdrangen, ihn ausforschten, ihn anfüllten mit einem Orkan rasender Angst.
    Eine schimmernde Stadt aus Marmor erblickte er, von ringförmigen Kanälen durchzogen, einen Tempel im Herzen der Stadt, in dessen gläserner Kuppel ein Feuer
    weit über Land und Meer hinaus leuchtete. Das unermesslich hohe Gewölbe dieses Tempels sah er, versunken in Dämmerung. Tausende Menschen erblickte

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