Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
stützte, und spähte hinein. Niemand war zu sehen. Auf dem Tisch stand eine rußig blakende Lampe. Es war keine Öllampe wie die unsere, sie glich eher einem gedeckten Weihrauchfäßchen, und sie leuchtete auch nicht richtig, sondern glomm nur schwach. Ich faßte mir ein Herz und trat in den Raum. Auf dem Tisch neben dem glimmenden Fäßchen lag aufgeschlagen ein großes farbig bemaltes Buch. Ich trat näher und entdeckte vier Streifen von verschiedener Farbe: gelb, zinnober, türkis und hellbraun. Darauf ein schrecklich anzusehendes Untier, ein Drache mit zehn Köpfen, der mit dem Schweif die Sterne am Himmel erfaßte und niederwarf auf die Erde. Und plötzlich vervielfachte sich der Drache, und die Schuppen seiner Haut wuchsen zu einem Wald von feurigen Zacken, die sich aus dem Buch erhoben und meinen Kopf umtanzten. Ich prallte zurück, taumelte, fiel auf den Rücken und sah die Decke über mir bersten. Dann hörte ich ein Zischen wie von tausend Schlangen, aber es klang nicht schrecklich, sondern eher verführerisch, und in einem Lichtkranz erschien ein Weib, das seine Lippen den meinen näherte und mich anhauchte. Mit gestreckten Armen schob ich das Weib von mir weg, und mir war, als ob meine Hände die Bücher im Schrank vor mir berührten, die sich ausdehnten und ins Unermeßliche wuchsen. Ich wußte nicht mehr, wo ich war, noch wo sich Himmel und Erde befanden. Mitten im Zimmer erblickte ich Berengar, der mich widerlich grinsend anstarrte, bebend vor Wollust. Ich schlug mir die Hände vors Gesicht, und sie kamen mir vor wie Krötenkrallen, kalt und glibberig. Entsetzt schrie ich auf, spürte einen bitteren Geschmack im Munde und sank in ein unendliches Dunkel, das sich weiter und weiter unter mir auftat. Dann wußte ich nichts mehr.
    Nach einer halben Ewigkeit weckten mich harte Donnerschläge, die in meinem Kopf explodierten. Ich lag auf dem Boden, und William gab mir leichte Klapse auf die Wangen. Wir waren nicht mehr in jenem Zimmer, meine Augen fielen auf eine Inschrift mit den Worten Requiescant a laboribus suis .
    »Auf, auf, Adson!« ermunterte mich William. »Es ist nichts . .
    »Aber die Gesichter . . .«, stammelte ich benommen, »dort drüben, der Drache . . .«
    »Kein Drache ist da. Ich fand dich ohnmächtig auf dem Boden vor einem Tisch, auf dem eine prächtige mozarabische Apokalypse lag, aufgeschlagen auf der Seite, wo das mit der Sonne bekleidete Weib – mulier amicta sole – dem roten Drachen entgegentritt. Am Geruch merkte ich gleich, daß du etwas Schlechtes eingeatmet hattest, und trug dich rasch hinaus. Auch mir dröhnt der Kopf.«
    »Und was habe ich gesehen?«
    »Gar nichts hast du gesehen. In der Lampe werden Substanzen verbrannt, die Visionen hervorrufen. Ich habe den Geruch wiedererkannt, es ist ein arabisches Zeug – möglicherweise das gleiche, das der Alte vom Berge seinen Assassinen eingab, bevor er sie zu ihren Meuchelmorden aussandte. Das Geheimnis der Visionen hätten wir also geklärt: Jemand füllt diese Lampe mit Zauberkräutern für die Nacht, damit ungebetene Besucher glauben, die Bibliothek werde durch höllische Mächte beschützt. Aber erzähl doch mal, was hast du gesehen?«
    Ich erzählte ihm reichlich wirr von meiner Vision, und William lachte: »Zur Hälfte hast du vergrößert, was du in dem Buch erblicktest, und zur anderen Hälfte hast du einfach deinen Wünschen und Ängsten freien Lauf gelassen. Genau das ist die Wirkung dieser Kräuter. Ich muß morgen mit Severin darüber sprechen, er weiß mehr darüber, als er uns glauben machen will. Es sind Kräuter, nichts als Kräuter, es bedarf gar nicht jener magischen Operationen, von denen der gute Glasermeister gesprochen hat. Kräuter und Spiegel . . .
    Dieser Ort des verbotenen Wissens wird mit Hilfe sehr wertvoller Erkenntnisse geschützt. Wissenschaft im Dienst der Verschleierung statt im Dienst der Erleuchtung. Gefällt mir nicht. Ein perverser Geist beherrscht die fromme Verteidigung dieser Bibliothek . . . Doch die Nacht war lang und ereignisreich, wir sollten jetzt hinausgehen. Du bist ohnmächtig geworden, du brauchst dringend einen Schluck Wasser und frische Luft, und es hat leider gar keinen Zweck zu versuchen, eins dieser Fenster zu öffnen, sie sind zu hoch und vielleicht seit Jahrhunderten nicht geöffnet worden. Wie hat man nur denken können, daß Adelmus hier irgendwo in die Tiefe gestürzt worden sei?«
    Hinausgehen hatte William gesagt. Das war freilich leichter gesagt als getan! Wir

Weitere Kostenlose Bücher