Der Name der Rose
nichts.
Überlegen wir weiter: Der Cellerar hatte es nicht und Malachias auch nicht, glaube ich jedenfalls.«
»Bestimmt nicht«, fiel Benno ein. »Als der Cellerar ihn an der Brust packte, sah man, daß er nichts unter dem Skapulier versteckt haben konnte.«
»Gut. Das heißt schlecht. Wenn das Buch nicht in diesem Raum ist, muß also vor Malachias und dem Cellerar noch jemand anders hier eingedrungen sein.«
»Eine dritte Person, die Severin erschlagen hat?« fragte ich.
»Zu viele Personen«, resignierte William.
»Andererseits«, gab ich zu bedenken, »wer konnte denn wissen, daß dieses Buch hier war?«
»Jorge zum Beispiel, falls er uns im Narthex gehört hatte.«
»Ja schon«, überlegte ich, »aber Jorge hätte doch sicher nicht einen so kräftigen Mann wie Severin töten können, noch dazu mit solcher Gewalt.«
»Sicher nicht. Außerdem hast du ihn ja zum Aedificium gehen sehen, und die Bogenschützen trafen ihn 228
Der Name der Rose – Fünfter Tag
in der Küche, kurz bevor sie den Cellerar fanden. Also hätte er gar nicht die Zeit gehabt, erst hierher zu gehen und dann wieder in die Küche zurück. Bedenke, er muß doch schließlich, so gewandt er sich auch bewegen mag, an den Mauern entlanggehen, er kann nicht einfach quer durch den Garten, noch dazu im Laufschritt
. . .«
»Laßt mich mit meinem eigenen Kopf überlegen«, sagte ich, begierig, mit meinem Meister zu wetteifern.
»Jorge kann es mithin nicht gewesen sein. Alinardus trieb sich in der Nähe herum, aber er kann sich kaum auf den Beinen halten und wäre erst recht nicht imstande, Severin zu überwältigen. Remigius war hier, aber die Zeit zwischen seinem Weggang aus der Küche und dem Eintreffen der Bogenschützen im Hospital war so kurz, daß er es kaum geschafft haben kann, sich von Severin öffnen zu lassen, über ihn herzufallen, ihn zu erschlagen und dann dieses ganze Pandämonium hier zu veranstalten. Malachias könnte natürlich allen zuvorgekommen sein: Jorge hat uns im Narthex gehört, geht ins Skriptorium, sagt Malachias, daß ein Buch aus der Bibliothek bei Severin ist, Malachias kommt her, beschwatzt Severin, ihm die Tür zu öffnen, und tötet ihn, Gott weiß warum . . . Aber er hätte das Buch erkennen müssen, ohne hier alles auf den Kopf zu stellen, er ist schließlich der Bibliothekar! Wer bleibt also übrig?«
»Benno«, sagte William.
Benno schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Bruder William! Ihr wißt, daß ich vor Neugier brannte, aber wenn ich hier eingedrungen wäre und mit dem Buch hätte verschwinden können, dann wäre ich jetzt nicht hier, sondern säße irgendwo im verborgenen, um meinen Schatz zu prüfen . . .«
»Klingt recht überzeugend«, lächelte William. »Aber auch du weißt nicht, wie das Buch aussieht. Du könntest Severin umgebracht haben und jetzt hier sein, um es zu suchen.«
Benno errötete heftig: »Ich bin kein Mörder!«
»Niemand ist einer, bevor er den ersten Mord begeht«, sagte William philosophisch. »In jedem Fall ist das Buch nicht mehr hier, und das beweist hinlänglich, daß du es nicht hiergelassen hast. Und wenn du es gefunden hättest, soviel scheint mir in der Tat klar, dann hättest du dich vorhin im Gewimmel damit verdrückt.«
Er wandte sich zu dem Ermordeten und betrachtete ihn eine Zeitlang schweigend. Es schien, als machte er sich erst jetzt den Tod seines Freundes bewußt. »Armer Severin«, murmelte er, »auch dich und deine Gifte hatte ich im Verdacht. Und du warst auf ein verborgenes Gift gefaßt, sonst hättest du nicht deine Handschuhe angezogen. Du fürchtetest eine Gefahr aus der Erde, und sie traf dich vom Himmelsgewölbe
. . .« William nahm die Armillarsphäre und drehte sie nachdenklich in der Hand. »Warum mag der Mörder wohl ausgerechnet diese Mordwaffe benutzt haben?«
»Sie war gerade zur Hand.«
»Kann sein. Aber es waren auch andere Dinge zur Hand, Krüge, Gartengeräte . . . Wirklich ein Musterbeispiel feinster Metallkunst und gelehrter Astronomie. Jetzt ist es ruiniert . . . Heiliger Himmel!« fuhr er plötzlich hoch.
»Was ist?«
»Und es ward geschlagen der dritte Teil der Sonne und der dritte Teil des Mondes und der dritte Teil der Sterne . . .«, rezitierte mein Meister. Ich kannte die Offenbarung Johannis zu gut: »Die vierte Posaune!« rief ich erschrocken.
»In der Tat: erst Hagel, dann Blut, dann Wasser und jetzt die Sterne . . . Aber wenn das so ist, dann müssen wir alles neu bedenken: Der Mörder hat nicht aufs Geratewohl
Weitere Kostenlose Bücher