Aprilgewitter
I.
E in gewaltiger Donnerschlag ließ das Haus erzittern. Unwillkürlich blickte Lore zum Fenster hinaus. Der helle Sonnenschein war schwarzen Wolken gewichen, die vom Sturmwind gepeitscht über den Himmel jagten. Ein zweiter Donner ertönte, und im nächsten Moment öffneten sich die Schleusen des Himmels. Große Tropfen, vermischt mit Graupeln, prasselten gegen die Fensterscheiben.
Das Aprilgewitter, das den strahlenden Frühlingstag vertrieben hatte, spiegelte Lores Stimmungslage wider. Mit einer unwilligen Geste wandte sie sich ihrem Ehemann zu, um das unterbrochene Gespräch fortzusetzen. »Ich denke nicht daran, den Modesalon zu verkaufen! Wie kommst du auf diese Schnapsidee?«
Der scharfe Unterton hätte Fridolin von Trettin warnen sollen, doch er hatte sich zu sehr auf seine Forderung versteift, um nun noch einlenken zu können. »Der Modesalon war eine Schnapsidee! Mit dem Ding beschädigst du mein Ansehen. Als Vizedirektor des Bankhauses Grünfelder kann ich es mir nicht leisten, dass es heißt, meine Frau sei eine simple Schneiderin!«
Mit jedem Satz wurde Fridolin lauter, und wirklich, die letzten Worte schrie er Lore ins Gesicht.
So wütend hatte sie ihren Mann noch nie erlebt. Mittlerweile bedauerte sie es, dass er seinen Posten beim Norddeutschen Lloyd aufgegeben hatte, um nach Berlin zu ziehen und in das Bankhaus August Grünfelder einzutreten. In Bremen war sie von der Idee fasziniert gewesen, hatte sie sich doch nichts mehr gewünscht, als zusammen mit ihrer Freundin Mary einen eigenen Modesalon zu führen. Dieses Geschäft in der Hauptstadt des Deutschen Reiches einrichten zu können war ihr wie der Gipfel ihrer Träume erschienen. Nun war der Salon eröffnet, und in den Büchern standen bereits die ersten Aufträge. Sie und Fridolin hätten nun zufrieden leben können. Stattdessen aber warf er ihr plötzlich Knüppel zwischen die Beine.
»Würde ich deinem Wunsch willfahren und unser Geschäft aufgeben, wäre Mary schwer enttäuscht und käme überdies finanziell in arge Bedrängnis. Das wirst du sicher nicht wollen!«
»Du hättest diesen Unsinn gar nicht erst anfangen dürfen!«, fauchte Fridolin und verdrängte dabei, dass er selbst die Verhandlungen mit dem Eigentümer des Hauses in der Leipziger Straße geführt hatte, in dem sich der Modesalon nun befand.
»Das ist kein Unsinn«, widersprach Lore, die sich bemühte, Ruhe zu bewahren. »Obwohl der Salon erst vor einer guten Woche eröffnet hat, haben wir bereits so viele Kundinnen gewonnen, dass er schon Ende dieses Monats Geld abwerfen wird. Natürlich ist das vor allem Marys Verdienst. Sie stammt wie die Gemahlin des Kronprinzen aus England, und da sich die vornehmen Damen bemühen, Prinzessin Viktorias Stil nachzuahmen, kann unser Geschäft dank Mary ihre Wünsche am besten erfüllen.«
Lore hätte ebenso gut der Wand predigen können. Fridolin hatte sich in den Gedanken verrannt, sie begäbe sich mit ihrem Modegeschäft auf die Stufe einer Schneiderin oder eines Krämers herab und schade damit seiner Reputation. »Warum sollte Mary das Modegeschäft nicht allein weiterführen? Du wirst ihr deine Anteile verkaufen und dich auf die Pflichten beschränken, die dir als meiner Gattin zukommen!«
Ein weiterer Donnerschlag riss Lore die erste erbitterte Antwort von den Lippen. Stattdessen atmete sie erst einmal tief durch, ehe sie weitersprach. »Mary hat nicht das Geld, mich auszahlen zu können, und an einen Fremden werde ich meinen Anteil an dem Ladenlokal nicht verkaufen. Dir zuliebe habe ich bereits darauf verzichtet, offiziell dort in Erscheinung zu treten. Auch läuft der Modesalon deinem Wunsch gemäß auf den Namen Mary Penn. Dies wird wohl genügen!«
Lore kochte innerlich. Bisher hatte sie stets auf Fridolin Rücksicht genommen, doch nun brachte er immer neue, an den Haaren herbeigezogene Argumente vor, um sie zu überzeugen. Bestürzt fragte sie sich, wo der fröhliche, unbeschwerte junge Mann geblieben war, den sie vor fünf Jahren geheiratet hatte. Daher musterte sie ihn, als sähe sie ihn zum ersten Mal.
Er war schlank, etwas über mittelgroß und gutaussehend. Doch statt des kecken Oberlippenbärtchens, das ihr so gut gefallen hatte, trug er nun einen gestutzten blonden Kinnbart, der ihn älter und gediegener erscheinen ließ. Seine Kleidung hatte er ebenfalls den neuen Verhältnissen angepasst: Hose, Weste und Gehrock waren ebenso wie die Krawatte aus dunkelgrauem Stoff. In dieser Aufmachung hätte der Fridolin, der
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