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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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philosophischen Einsichten überhaupt nicht trösten. Ich wußte nur eines: Mein Mädchen würde verbrannt werden! Und ich fühlte mich in gewisser Weise mitverantwortlich, war mir doch so, als büßte sie auf dem Scheiterhaufen auch für die Sünde, die ich mit ihr begangen hatte.
    Fassungslos schluchzte ich auf und rannte heulend in meine Zelle, wo ich die ganze Nacht lang verzweifelt in die Matratze biß, ohnmächtig wimmernd und wortlos, war es mir doch nicht einmal vergönnt, meiner Klage Ausdruck zu geben (wie ich's als Knabe in Ritter- und Liebesromanen gelesen) durch Anrufung des Namens der Geliebten.
    Von der einzigen irdischen Liebe in meinem Leben kannte ich nicht – und erfuhr ich nie – den Namen.
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    Sechster Tag
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    Der Name der Rose – Sechster Tag
    SECHSTER TAG
    METTE
    Worin die Principes sederunt und Malachias zu Boden stürzt.
    Frierend begaben wir uns zur Mette. Es war immer noch neblig in dieser frühen Stunde vor Anbruch des neuen Tages, mir saß die schlaflose Nacht in den Knochen, und als wir den Kreuzgang durchquerten, drang mir die Feuchtigkeit bis ins innerste Mark. Die Kirche war kalt, doch mit einem Seufzer der Erleichterung kniete ich nieder unter dem hohen Gewölbe, geschützt vor den Elementen, getröstet durch die Wärme der anderen Leiber und durch das Gebet.
    Der Psalmengesang hatte gerade begonnen, als William mich auf einen leeren Platz im Chorgestühl hinwies, zwischen Jorge und Pacificus von Tivoli. Es war der Platz des Bibliothekars, der in der Tat stets neben dem Blinden zu sitzen pflegte. Auch sah ich, daß wir nicht die einzigen waren, die sein Fehlen bemerkt hatten. Auf der einen Seite erhaschte ich einen besorgten Blick des Abtes, der sicher längst wußte, wie unheilschwanger solche Abwesenheiten waren. Auf der anderen Seite bemerkte ich eine ganz ungewöhnliche Unruhe bei Jorge. Sein Gesicht, dessen Ausdruck gemeinhin so undurchschaubar war dank jener weißen, lichtlosen Augen, lag fast gänzlich im Schatten, doch nervös und ruhelos waren seine Hände.
    Immer wieder tastete er nach dem Platz neben sich, wie um zu prüfen, ob er inzwischen besetzt war, und in regelmäßigen Abständen wiederholte er diese Geste, als hoffte er, daß der Fehlende jeden Augenblick auftauchen werde, nicht ohne das Gegenteil zu befürchten.
    »Wo mag der Bibliothekar sein?« fragte ich William flüsternd.
    »Malachias war der letzte«, antwortete er, »der das Buch in Händen hatte. Wenn er nicht selbst der Mörder ist, könnte es sein, daß er nicht wußte, welche Gefahren es birgt . . .«
    Mehr war im Augenblick nicht zu sagen. Man konnte nur warten. Und so warteten wir, der Abt, der den leeren Platz nicht aus den Augen ließ, und Jorge, der immer wieder hinübertastete.
    Am Ende des Gottesdienstes ermahnte der Abt die versammelten Mönche und Novizen, sich gebührend auf die Hohe Messe zur Weihnacht vorzubereiten. Sie sollten darum jetzt nicht auseinandergehen, sondern, dem Brauche entsprechend, die Zeit bis Laudes nutzen, um einige der für jene Gelegenheit vorgesehenen Chorgesänge zu üben, auch um damit die Eintracht der ganzen Gemeinde unter Beweis zu stellen. Eine gute Idee, so schien mir, denn im Chorgesang war jener Verband frommer Männer tatsächlich harmonisch wie ein einziger Leib mit einer einzigen Stimme und, dank jahrelanger Übung, einträchtig wie ein Herz und eine Seele.
    Der Abt intonierte das Sederunt principes :
    Sederunt principes
    et adversus me
    loquebantur, iniqui
    persecuti sunt me.
    Adjuva me, Domine
    Deus meus, salvum me
    fac propter magnam misericordiam tuam.
    Ich fragte mich, ob der Abt dieses Graduale wohl bewußt ausgesucht hatte für diesen Morgen, an welchem die Abgesandten jener Fürsten und Machthaber (die da saßen und gegen uns sprachen, uns verfolgend in ihrer Bosheit) noch unter uns weilten, gleichsam um sie daran zu erinnern, wie unerschütterlich unser Orden seit Jahrhunderten den Verfolgungen durch die Mächtigen standgehalten hatte dank seines besonderen Verhältnisses zu Gott, dem Herrn der Heerscharen. In der Tat weckte der Anfang des Gesanges einen Eindruck von großer Kraft.
    Langsam und feierlich begann auf der ersten Silbe se ein mächtiger Chor von Dutzenden und Aberdutzenden tiefer Stimmen, deren gleichbleibender Grundton das Kirchenschiff füllte und sich hoch über unsere Köpfe erhob, wiewohl er aus dem Herzen der Erde zu kommen schien. Auch brach er nicht ab, 257
    Der Name der Rose – Sechster Tag
    als andere Stimmen

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