Der Name der Rose
einsetzten, um über diesem tiefen und kontinuierlichen Halteton eine Reihe von Vokalisen und Melismen zu knüpfen, sondern blieb – gleichsam tellurisch – so lange liegen, wie ein geübter Vorsänger braucht, um getragen und mit vielen Kadenzen zwölfmal das Ave Maria zu singen. Und wie befreit durch das Grundvertrauen, das jene beharrlich ausgehaltene Silbe – Allegorie der ewigen Dauer – den Sängern einflößte, errichteten andere Stimmen, insbesondere die der Novizen, auf diesem festen Felsengrunde nun Säulen und Giebel und Zinnen aus liqueszierenden und subpunktierten Neumen. Und während mein Herz vor Wonne erbebte beim raschen Auf und Ab eines Climacus oder Porrectus, eines Torculus oder Salicus, dünkte mich, als wollten mir jene Stimmen bedeuten, daß die Seele (der Singenden wie derer, die ihnen lauschten) dem Überschwang der Gefühle nicht standzuhalten vermag und aufbricht, um Freude, Schmerz, Lobpreis und Liebe auszudrücken im beglückenden Rausch dieser Klangesfülle.
Indessen ließ das beharrliche Grollen der chthonischen Stimmen nicht nach, als wollten sie sagen, daß die Feinde, die dem Gottesvolk nachstellen, stets gegenwärtig bleiben. Bis schließlich jenes neptunische Brausen eines einzigen tiefen Haltetons besiegt, oder jedenfalls gebändigt und übertönt wurde durch den hallelujatischen Jubel der Oberstimmen, um sich aufzulösen in einem majestätischen, vollendet reinen Akkord mit abschließendem Resupinus.
Nachdem das sederunt derart ausgesprochen, ja fast mit dumpfer Qual herausgepreßt worden war, erklang nun das principes in großer seraphischer Ruhe. Ich fragte mich nicht mehr, wer jene Fürsten sein mochten, die da saßen und gegen mich sprachen als böse Verfolger, denn verschwunden und aufgelöst war das bedrohliche, alptraumhafte Phantom.
Auch andere Phantome, so schien mir, lösten sich auf in diesem Moment, denn als ich jetzt erneut hinübersah zum Platz des Bibliothekars, von dem mich der hehre Gesang eine Zeitlang abgelenkt hatte, erblickte ich die Gestalt des Vermißten zwischen den Sängern, als hätte sie nie gefehlt. Ich schaute zu William und gewahrte eine Spur von Erleichterung in seinen Augen – die gleiche, die ich nun auch drüben in den Augen des Abtes bemerkte. Was Jorge betraf, so hatte er seine tastende Hand, als sie den Leib des Nachbarn berührte, rasch wieder zurückgezogen. Welche Gefühle ihn durchströmten, vermag ich allerdings nicht zu sagen.
Festlich erklang nun das adjuva me , dessen klares a sich hell durch die Kirche verbreitete, und auch das u erschien nicht mehr so düster wie eben noch das von sederunt , sondern war jetzt erfüllt von heiliger Kraft.
Die Mönche und Novizen sangen, wie es den Regeln des Singens entsprach, mit hochaufgerichtetem Oberkörper, die Kehle frei, den Blick nach oben, das Buch vor sich haltend in Schulterhöhe, so daß sie die Neumen lesen konnten, ohne durch ein Senken des Kopfes das Entströmen der Luft aus ihrer Brust zu vermindern. Doch es war noch sehr früh am Morgen, es war noch vollkommen dunkel draußen, und trotz der Jubelklänge waren die Sänger noch schläfrig, so daß manche von ihnen, womöglich gerade in einen lang ausgehaltenen Ton versenkt oder sich forttragen lassend von der Welle des Klanges, zuweilen den Kopf nach vorn kippen ließen, von der Müdigkeit übermannt. Weshalb auch bei dieser Gelegenheit die Fratres vigilantes durch die Reihen gingen und mit ihren Lampen in die Gesichter leuchteten, um die Singenden anzuhalten zur Vigilia des Leibes und der Seele.
Einer der Vigilanten war es denn auch, der als erster entdeckte, daß Malachias sonderbar wankte, als sei er plötzlich in die kimmerischen Nebel des Tiefschlafs eingetaucht, den er vermutlich in jener Nacht nicht genossen hatte. Er trat näher und leuchtete ihm ins Gesicht, wodurch er meine Aufmerksamkeit auf die Szene zog. Der Bibliothekar reagierte nicht. Der Lampenträger berührte ihn, und schwer kippte Malachias vornüber. Der Lampenträger konnte ihn gerade noch rechtzeitig auffangen, bevor er zu Boden stürzte.
Die Stimmen erloschen, der Gesang erstarb, es folgte ein kurzes Durcheinander. William war sofort aufgesprungen und zu der Stelle geeilt, wo jetzt Pacificus von Tivoli und der Vigilant den reglosen Malachias auf den Boden legten.
Wir trafen fast gleichzeitig mit dem Abt bei dem Zusammengebrochenen ein und musterten sein Gesicht im Schein der Lampen. Ich habe sein Aussehen schon beschrieben, doch nun, in diesem Licht,
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