Der Name der Rose
enge Pforte zu verschmähen und zu mißachten die Worte der Wahrheit, und werden mit Haß betrachten jeglichen frommen Lebenswandel, und werden nicht Buße tun für ihre Sünden, und werden deswegen Unglauben säen unter den Völkern und Bruderhaß, Niedertracht, Härte und Neid, Gleichgültigkeit, Raub und Diebstahl, Trunksucht, Zügellosigkeit, Unzucht, fleischliche Lust, Hurerei und alle anderen Laster. Abnehmen werden Betroffenheit, Demut, Friedensliebe, Bescheidenheit, Mitleid und die Gabe des Trauerns . . . Nun, meine Zuhörer, erkennt ihr euch nicht darin, ihr alle, die ihr hier sitzt, Mönche dieser Abtei und Mächtige aus der Ferne?«
In der Pause, die nun folgte, war ein leises Rascheln zu hören. Es kam von Kardinal Bertrand, der sich heftig den Kopf kratzte. Im Grunde ist Jorge, dachte ich, schon ein großer, gewaltiger Prediger: Während er seine Mitbrüder geißelte, sparte er die Besucher nicht aus, und ich hätte wer weiß was dafür gegeben, zu erfahren, was dem gestrengen Bernard in diesem Moment durch den Kopf gehen mochte, oder den fetten Avignonesern.
»In jenem Moment, und das ist eben dieser«, donnerte Jorge, »erfährt der Antichrist seine blasphemische Parusie als Nachäffer Unseres Herrn und Heilands. In jenen Tagen – und das sind die unseren – brechen die Reiche zusammen, herrschen Mangel und Not, folgen einander Mißernten und allerstrengste Winter. Doch die Kinder jener Zeit – die keine andere ist als die unsere – haben niemanden mehr, der ihnen ihre Güter verwaltet und das Getreide hortet in ihren Scheuern, und werden gebeutelt auf den Märkten des An- und 251
Der Name der Rose – Fünfter Tag
Verkaufs. Selig, wer dann nicht mehr lebt, oder wer das zu überleben vermag! Denn nun kommt er, der Sohn der Verdammnis, der Feind, der sich brüstet und aufbläht mit vorgespiegelten Tugenden, um die ganze Erde zu täuschen und über die Gerechten zu herrschen. Syrien bricht zusammen und beweint seine Kinder.
Kilikien erhebt sein Haupt, bis jener kommt, der da berufen ist, es zu richten. Babylons Tochter erhebt sich vom Thron ihrer Herrlichkeit, um zu trinken aus dem Kelche der Bitternis. Kappadokien, Lykien und Lykaonien beugen den Rücken, auf daß große Menschenhaufen vernichtet werden im Untergang ihrer Bosheit. Barbarenheere und Kriegswagen brechen herein allenthalben, um die Länder zu besetzen. In Armenien, im Pontus und in Bithynien fallen die Jünglinge durchs Schwert, die Kinder geraten in Gefangenschaft, die Söhne und Töchter treiben Blutschande. Pisidien, das sich sonnte in seinem Ruhme, wird zu Boden gestreckt, das Schwert schlägt drein in Phönizien, Juda legt Trauer an und bereitet sich vor auf den Tag, da es verdammt wird ob seiner Unreinheit. Greuel und Trostlosigkeit erheben sich allenthalben, der Antichrist stürmt weiter gen Westen, erobert den Okzident und zerstört die Handelswege, Schwert und Feuer trägt er in seinen Händen und brennt in rasender Flammengewalt. Seine Kraft ist die Lästerung, List seine Hand, Verderben bringt seine Rechte, Finsternis seine Linke. Dies sind die Züge, die ihn auszeichnen: Sein Kopf ist brennendes Feuer, sein rechtes Auge ist blutunterlaufen, sein linkes Auge ist katzengrün und hat zwei Pupillen, seine Lider sind weiß, seine Unterlippe ist wulstig, dünn sind die Schenkel, mächtig die Füße, und er hat einen platten, langgezogenen Daumen!«
»Klingt wie sein Selbstporträt«, flüsterte William grinsend. Eine sehr freche Bemerkung, wirklich, aber ich war ihm dankbar dafür, denn mir wollten gerade die Haare zu Berge stehen. Ich unterdrückte mit Mühe ein Lachen, indem ich die Backen aufblies und die Luft aus den zusammengepreßten Lippen fahren ließ. Das ergab einen Laut, den man gut hören konnte in der Stille nach den letzten Worten des Alten, doch glücklicherweise dachten alle, es hätte wohl jemand husten müssen oder aufgeschluchzt oder wäre erschauernd zusammengefahren, und alle hatten vollstes Verständnis dafür.
»In diesem Moment«, fuhr Jorge fort, »versinkt alles in Willkür, die Kinder erheben sich gegen die Eltern, die Gattin sinnt Böses gegen den Gatten, der Gatte zieht die Gattin vor Gericht, die Herren sind unmenschlich zu den Knechten, die Knechte sind ungehorsam gegenüber den Herren, es gibt keine Ehrfurcht mehr vor dem Alter, die Halbwüchsigen wollen bestimmen, die Arbeit erscheint allen nur noch als überflüssige Plackerei, überall erheben sich Lobgesänge auf die Freizügigkeit, auf
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