Der Name der Rose
daß seine Eintragungen (beziehungsweise die eines anderen, der aber nicht Robert von Bobbio ist) von 1265 bis 1285 reichen, dann entdecke ich eine Differenz von zehn Jahren.«
Mein Meister war wirklich sehr scharfsinnig. »Und welche Folgerungen zieht Ihr daraus?« wollte ich wissen.
»Keine«, sagte er. »Nur Prämissen.«
Dann erhob er sich und ging zu Benno hinüber. Der neuernannte Bibliothekarsgehilfe saß immer noch brav, wenn auch sichtlich bedrückt, an seinem alten Arbeitsplatz, er hatte es nicht gewagt, den Platz des Bibliothekars beim Katalog einzunehmen. William sprach ihn recht förmlich an, die unschöne Szene vom Vorabend war noch nicht vergessen.
»Auch wenn Ihr jetzt so hochmögend seid, Herr Bibliothekar, werdet Ihr hoffentlich die Güte haben, mir eine Auskunft zu geben. Neulich an jenem Morgen, als Adelmus und die anderen hier über Rätsel und Wortspiele diskutierten und Berengar zum ersten Mal eine Anspielung auf das Finis Africae machte, hat da jemand vielleicht auch die Coena Cypriani erwähnt?«
»Ja«, antwortete Benno, »habe ich Euch das nicht erzählt? Bevor wir über die Rätsel des Symphosius sprachen, erwähnte Venantius die Coena . Malachias wurde darüber sehr böse, nannte die Coena ein schamloses Werk und erinnerte daran, daß der Abt uns allen verboten hat, sie zu lesen . . .«
»So, so, der Abt!« sagte William. »Sehr interessant. Ich danke Euch, Benno.«
»Wartet«, rief der junge Mönch hastig. »Ich möchte mit Euch sprechen.« Er bedeutete uns, ihm auf die Wendeltreppe hinaus zu folgen, die zur Küche hinunterführte, damit die anderen ihn nicht hören könnten.
Seine Lippen zitterten.
»Bruder William, ich habe Angst!« begann er. »Sie haben nun auch Malachias umgebracht. Jetzt bin ich derjenige, der zuviel weiß! Ich bin den Italienern ein Dorn im Auge, sie wollen keinen Ausländer mehr als Bibliothekar . . . Ich glaube, die anderen sind genau deswegen aus dem Weg geräumt worden . . . Ich habe Euch nie von Alinardus' Haß auf Malachias erzählt, von seinem unversöhnlichen Groll . . .«
»Wer war es, der ihm damals den Bibliothekarsposten weggeschnappt hatte?«
»Das weiß ich nicht. Er spricht immer nur sehr vage davon, und es muß schon lange her sein, bestimmt sind inzwischen alle tot . . . Aber die Gruppe der Italiener um Alinardus spricht . . . sprach von Malachias häufig wie von einem Strohmann, den ein anderer eingesetzt hatte und lenkte, mit Wissen des Abtes . . . Ich bin da unversehens in . . . in einen Machtkampf zwischen zwei Fraktionen hineingeraten . . . Erst heute morgen ist mir das klargeworden . . . Italien ist ein Land voller Verschwörer, hier werden sogar die Päpste vergiftet, was wird da aus einem armen Mönchlein wie mir? Gestern dachte ich noch, es ginge bloß um das Buch, jetzt bin ich mir dessen nicht mehr so sicher, das Buch war vielleicht nur ein Vorwand . . . Ihr habt ja gesehen, es hatte sich wieder eingefunden, und Malachias mußte trotzdem sterben . . . Ach, Bruder William, was soll ich nur tun? Ich muß . . . ich will . . . ich möchte fliehen. Was ratet Ihr mir?«
275
Der Name der Rose – Sechster Tag
»Dich erstmal zu beruhigen. Jetzt willst du auf einmal meinen Rat, sieh an! Gestern fühltest du dich noch fast als Herr der Welt! Dummkopf, wir hätten das letzte Verbrechen verhindern können, wenn du mir gestern geholfen hättest! Du warst es, der Malachias das tödliche Buch gegeben hat! Aber sag mir jetzt wenigstens eins: Hast du das Buch in die Hände genommen, hast du es berührt, hast du es gelesen? Wie kommt es, daß du noch lebst?«
»Ich weiß nicht. Ich schwöre, ich habe es nicht berührt, beziehungsweise nur, um es aus dem Laboratorium zu holen, aber ohne es aufzuschlagen, ich habe es unter die Kutte genommen und in meiner Zelle unter der Matratze versteckt. Ich wußte, daß Malachias mich beobachtete, und deshalb bin ich sofort ins Skriptorium zurückgegangen. Und als mir Malachias dann den Posten seines Gehilfen anbot, habe ich ihn in meine Zelle geführt und ihm das Buch gegeben. Das war alles.«
»Willst du mir weismachen, daß du es nicht einmal aufgeschlagen hast?«
»Doch, ich habe es ganz kurz aufgeschlagen, um mich zu vergewissern, ob es auch wirklich das gesuchte war. Es begann mit einem arabischen Text, denn kam einer, der mir syrisch erschien, dann ein lateinischer und schließlich ein griechischer . . .«
Ich entsann mich der vier Titel, die wir vorhin im Katalog gelesen hatten. Die ersten
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