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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Märtyrers . . . Seit Jahren hatte ich nicht mehr an diese kindischen Spaße gedacht. Wie kam es, daß mir die Coena ausgerechnet an diesem Morgen so lebhaft im Traum erschienen war? Bisher hatte ich stets geglaubt, Träume seien entweder göttliche Botschaften oder sinnlose Stammeleien des schlafenden Geistes, wirre Erinnerungen an Geschehnisse des vergangenen Tages. Nun ging mir auf, daß man auch Bücher träumen kann. Also kann man vielleicht auch Träume träumen . . .
    »Gern wäre ich jetzt Artemidoros, um dir deinen Traum richtig deuten zu können«, unterbrach William meine Gedanken. »Aber ich denke, auch ohne die Weisheit des griechischen Traumdeuters läßt sich unschwer begreifen, was dir widerfahren ist, mein armer Adson. Du hast in den letzten Tagen eine Reihe wirrer Ereignisse miterlebt, die keiner Regel mehr zu gehorchen scheinen. Nichts fugt sich mehr in die gewohnten Bahnen, alles steht auf dem Kopf, und so ist heute morgen in deinem schlafenden Geist die Erinnerung an eine Art von Komödie wiedererstanden, an eine Posse, in der, aus welchen Gründen auch immer, die Welt auf dem Kopf steht. Du hast deine jüngsten Erlebnisse, deine Sorgen und Ängste dazugetan und bist, ausgehend von den Miniaturen des armen Adelmus, in einen großen Karneval geraten, in eine Welt, die völlig verkehrt zu sein scheint und in der doch jeder – wie in der Coena – genau das tut, was er im wirklichen Leben getan hat. Am Ende hast du dich in deinem Traum gefragt, welche Welt denn nun eigentlich die verkehrte ist und was es heißt, auf dem Kopf zu stehen, und dein Traum hat plötzlich nicht mehr gewußt, wo oben und unten ist, wo der Tod ist und wo das Leben. Dein Traum hat die Lehren bezweifelt, die du empfangen hast.«
    »Mein Traum vielleicht, aber nicht ich«, sagte ich tugendhaft. »Doch wenn das so ist, dann sind Träume ja keine göttlichen Botschaften, sondern teuflische Phantastereien, die keinerlei Wahrheit enthalten!«
    »Ich weiß nicht, Adson. Wir haben bereits so viele Wahrheiten in der Hand . . . Wenn eines Tages jemand käme und sich gar anheischig machte, auch noch in unseren Träumen nach einer Wahrheit zu forschen, dann wäre die Zeit des Antichrist wirklich nahe . . . Und doch, je länger ich über deinen Traum nachdenke, desto aufschlußreicher finde ich ihn. Mag sein, daß er dir nichts enthüllt, aber mir. Verzeih, wenn ich deinen Traum benutze, um meine Hypothesen weiterzutreiben, das ist respektlos, ich weiß, so was tut man nicht
    . . . Aber ich glaube, dein schlafender Geist hat in wenigen Augenblicken mehr aufgedeckt als mein wacher Geist in den letzten sechs Tagen . . .«
    »Wirklich?«
    »Ja, wirklich. Oder vielleicht auch nicht. Ich finde deinen Traum aufschlußreich, weil er zu einer meiner Hypothesen paßt. Aber du hast mir ein großes Stück weitergeholfen, ich danke dir.«
    »Was war denn in meinem Traum, das Euch so interessiert? Er schien mir sinnlos wie alle Träume.«
    »Er enthielt einen anderen Sinn, wie alle Träume und Visionen. Er muß allegorisch gedeutet werden, oder anagogisch . . .«
    »Wie die Schriften?«
    »Träume sind Schriften, und viele Schriften sind nichts als Träume.«
    273
    Der Name der Rose – Sechster Tag
    SECHSTER TAG
    SEXTA
    Worin die Geschichte der Bibliothekare ergründet wird und man noch einiges mehr
    über das geheimnisvolle Buch erfährt.
    William eilte sofort ins Skriptorium zurück, ließ sich von Benno die Erlaubnis zur Benutzung des Kataloges geben und blätterte ihn rasch durch. »Es muß hier irgendwo sein«, sagte er, »ich hab's noch vor einer Stunde gesehen . . . Ah, hier ist es ja! Lies diese Eintragung!«
    Unter einer gemeinsamen Signatur (» finis Africae «!) standen vier Titel, es handelte sich ganz offensichtlich um einen Band mit verschiedenen Texten. Ich las:
    I
    I.
    ar. de dictis cujusdam stulti
    II.
    syr. libellus alchemicus aegypt.
    III.
    Expositio Magistri Alcofribae de coena beati Cypriani Cartaginensis Episcopi
    IV.
    Liber acephalus de stupris virginum et meretricum amoribus
    »Was ist das?« fragte ich.
    »Unser Buch«, flüsterte William. »Jetzt weißt du, was mir dein Traum enthüllt hat. Ich bin ganz sicher, das muß es sein! Laß mal sehen . . .« Rasch ging er die Titel auf den Seiten vor und nach der ominösen Eintragung durch. »Ja, tatsächlich, hier stehen alle Bücher beisammen, an die ich gedacht hatte! Aber ich wollte noch etwas anderes nachprüfen. Hör zu. Hast du deine Tafel bei dir? Gut, wir werden jetzt

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