Der Name der Rose
Flucht ins göttliche Nichts antritt, die nicht das ist, was ihn sein Meister gelehrt hatte). Alles begreiflich machen durch einen, der nichts begreift.
Beim Lesen der Rezensionen merke ich nun, daß dies ein Aspekt des Romans ist, der die »gebildeten« Leser wenig beeindruckt hat, jedenfalls hat ihn kaum einer hervorgehoben. Aber ich frage mich heute, ob es nicht eines der Elemente ist, die zur Lesbarkeit des Romans für »naive« Leser geführt haben. Sie können sich mit der Unschuld des Erzählers identifizieren und sich gerechtfertigt fühlen, auch wenn sie nicht alles verstanden haben. Sie dürfen zugleich ihre Ängste wieder ausleben, ihr Zittern vor der Sexualität, vor den fremden Sprachen, den Schwierigkeiten des Denkens, den Geheimnissen des politischen Lebens … Diese Dinge begreife ich heute, im nachhinein, aber vielleicht übertrug ich damals auf Adson vieles von meinen eigenen pubertären Ängsten, mit Sicherheit in seinen Liebeskrämpfen (aber stets auch mit der Gewähr, durch Mittelspersonen handeln zu können: faktisch empfindet und äußert Adson sein Liebesleid nur durch die Worte, mit denen die Kirchenväter von Liebe sprachen). Kunst ist Flucht aus der persönlichen Emotion, das hatten mich sowohl Joyce wie Eliot gelehrt.
Der Kampf gegen die Emotion war manchmal sehr hart. Ich hatte ein schönes Gebet geschrieben, modelliert nach dem Lob der Natur von Alain de Lilie, um es William in einem Augenblick starker Gefühlsregung in den Mund zu legen. Aber dann wurde mir klar, daß wir uns beide sehr erregt hätten, ich als Autor und er als Romanperson. Ich als Autor durfte es nicht, aus poetologischen Gründen. Er als Romanperson konnte es nicht, da er aus anderem Holz geschnitzt war und seine Emotionen entweder ganz »im Kopf« auslebte oder verdrängte. So habe ich jene Seite gestrichen. Nach der Lektüre des Buches sagte mir eine Freundin: »Mein einziger Einwand ist, daß William nie eine Regung von Mitleid zeigt.« Ich erzählte das einem anderen Freund, der mir antwortete: »Sie hat recht, das ist der Stil seiner pietas .« So mag es gewesen sein. Und so sei es.
Der Atem
Die langen erläuternden Einschübe hatten indessen noch einen anderen Grund. Nach der Lektüre des Manuskriptes meinten die Freunde im Verlag, ich sollte die ersten hundert Seiten ein wenig kürzen, sie seien zu anspruchsvoll und ermüdend. Ich hatte keinerlei Zweifel, ich lehnte ab mit dem Argument: Wer die Abtei betreten und darin sieben Tage verbringen will, muß ihren Rhythmus akzeptieren. Wenn ihm das nicht gelingt, wird er niemals imstande sein, das Buch bis zu Ende zu lesen. Die ersten hundert Seiten haben daher die Funktion einer Abbüße oder Initiation, und wer sie nicht mag, hat Pech gehabt und bleibt draußen, zu Füßen des Berges.
Der Eintritt in einen Roman ist wie der Aufbruch zu einer Bergtour: Man muß sich an einen Atem gewöhnen, an eine bestimmte Gangart, sonst kommt man bald aus der Puste und bleibt zurück. Das gleiche geschieht in der Poesie. Man denke nur an die Unerträglichkeit jener Gedichtvorträge von Schauspielern, die, um zu »interpretieren«, das Metrum mißachten, mit rezitativen enjambements die Versenden überspringen, als ob sie Prosa vortrügen, und den Inhalt wichtiger nehmen als den Rhythmus. Wer ein Gedicht in elfsilbigen Terzinen vortragen will, muß den singenden Rhythmus annehmen, den der Dichter gewollt hat. Lieber Dante aufsagen, als ob es Kinderreime von Annodazumal wären, als auf Biegen und Brechen hinter dem Sinn herlaufen.
In Prosaerzählungen wird der Atem nicht den Satzgliedern anvertraut, sondern größeren Einheiten, Szenen oder Ereignissequenzen. Manche Romane atmen wie Gazellen, andere wie Wale oder Elefanten. Die Harmonie liegt nicht in der Länge der Atemzüge, sondern in ihrem Gleichmaß; auch weil und damit dann – wenn der Atem an einem bestimmten Punkt (aber nicht zu oft) stockt und ein Abschnitt oder Kapitel endet, bevor ganz »ausgeatmet« worden ist – dies eine wichtige Rolle in der Ökonomie des Erzählens gewinnen, einen Abbruch oder Szenenwechsel markieren kann. So jedenfalls sehen wir es bei den Großen: Ein Satz wie » la sventurata rispose « – Punkt und Neubeginn – hat nicht den gleichen Rhythmus wie ein » Addio monti « 129 , aber wenn er kommt, ist es, als würde der schöne lombardische Himmel blutrot. Ein großer Roman ist einer, in dem der Autor stets weiß, wann er beschleunigen und wann er bremsen muß und wie er diese Pedaltritte
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