Der Name der Rose
Jahr der Arbeit an meinem Roman verging mit dem Aufbau der Welt. Lange Listen der Bücher, die in einer mittelalterlichen Bibliothek stehen konnten. Namen- und Datenregister für viele Personen, viele mehr, als am Ende in die Geschichte hineinkamen. Denn ich mußte ja schließlich auch wissen, wer die anderen Mönche waren, die nicht im Buch auftreten; es war nicht nötig, daß der Leser ihre Bekanntschaft machte, aber ich mußte sie kennen. Wer hat gesagt, die Epik müsse dem Einwohnermeldeamt Konkurrenz machen? Aber vielleicht muß sie auch dem Bauamt Konkurrenz machen. Also ausgedehnte architektonische Studien, anhand von Bildern, Fotos und Grundrissen in der Enzyklopädie der Architektur, um den Plan der Abtei festzulegen, die Entfernungen, ja selbst die Anzahl der Stufen einer Wendeltreppe. Marco Ferreri hat mir später gesagt, daß meine Dialoge filmgerecht seien, da sie die richtige Länge hätten. Kein Wunder: Wenn zwei meiner Personen miteinander redeten, während sie vom Refektorium zum Kapitelsaal gingen, schrieb ich mit dem Plan der Abtei vor Augen, und wenn sie angelangt waren, hörten sie auf zu reden.
Um frei erfinden zu können, muß man sich Beschränkungen auferlegen. In der Lyrik kann die Beschränkung durch das Versmaß gegeben sein, durch den Reim oder auch durch das, was Zeitgenossen den Atem nach dem Gehör genannt haben. In der Epik wird die Beschränkung durch die zugrundeliegende Welt gegeben. Das ist keine Frage des Realismus (obwohl es sogar den Realismus erklärt): Man kann sich auch eine ganz irreale Welt errichten, in der die Esel fliegen und die Prinzessinnen durch einen Kuß geweckt werden, aber auch diese rein phantastische und »bloß mögliche« Welt muß nach Regeln existieren, die vorher festgelegt worden sind (zum Beispiel muß man wissen, ob es eine Welt ist, in der Prinzessinnen nur durch den Kuß von Prinzen geweckt werden können oder auch durch den Kuß einer Hexe, und ob der Kuß einer Prinzessin nur Kröten in Prinzen zurückverwandelt oder auch, sagen wir, Gürteltiere).
Zu meiner Welt gehörte auch die Realgeschichte, und darum studierte ich so viele Chroniken der Epoche; und während ich sie studierte, wurde mir klar, daß in meinen Roman auch Dinge eingehen mußten, an die ich anfangs nicht einmal im Traum gedacht hätte, wie der Armutsstreit oder die Verfolgung der Fratizellen.
Ein Beispiel: Wie sind die Fratizellen des 14. Jahrhunderts in mein Buch gekommen? Eigentlich hätte ich, wenn ich nun schon eine mittelalterliche Geschichte erzählen sollte, sie lieber im 13. oder 12. Jahrhundert angesiedelt, wo ich viel besser zu Hause war. Aber ich brauchte einen Detektiv, nach Möglichkeit einen Engländer (intertextuelles Zitat), der eine gute Beobachtungsgabe und einen ausgeprägten Sinn für die Interpretation von Indizien haben mußte. Und diese Eigenschaften fanden sich, wenn überhaupt, nur im Umkreis der Franziskaner nach Roger Bacon; außerdem gab es eine entwickelte Zeichentheorie erst bei den Ockhamisten, beziehungsweise es gab sie auch vorher schon, aber vor Ockham wurden die Zeichen entweder symbolisch gedeutet, oder man sah in ihnen vorwiegend die Ideen und Universalien. Erst zwischen Bacon und Ockham wurden die Zeichen als Mittel zur Erkenntnis der Individuen benutzt. Folglich mußte ich meine Geschichte ins 14. Jahrhundert verlegen, zu meiner großen Irritation, weil ich mich dort viel schlechter auskannte. Also erneute Studien – und die Entdeckung, daß ein Franziskaner im 14. Jahrhundert, auch ein englischer, unmöglich den Armutsstreit ignorieren konnte, zumal wenn er ein Freund oder Anhänger oder Kenner Ockhams war (nebenbei: ursprünglich sollte Ockham selber mein Detektiv sein, aber dann habe ich darauf verzichtet, denn als Mensch ist mir der Inceptor Venerabilis nicht besonders sympathisch).
Warum spielt nun das Ganze ausgerechnet Ende November 1327? Weil im Dezember Michael von Cesena bereits in Avignon ist (und dies eben heißt in einem historischen Roman eine Welt ausstaffieren: einige Elemente, wie die Anzahl der Stufen, beruhen auf einer Entscheidung des Autors; andere, wie die Bewegungen Michaels von Cesena, sind abhängig von der wirklichen Welt, die in dieser Art von Romanen zufällig mit der möglichen Welt der Erzählung koinzidiert).
November war aber eigentlich noch zu früh. Denn ich mußte ja auch ein Schwein schlachten. Warum? Ganz einfach: um eine Leiche kopfüber in einen Schweineblutbottich stürzen zu können. Und warum
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