Der Name der Rose
Habeat Librarius et registrum omnium librorum ordinatum secundum facultates et auctores, reponatque eos separatim et ordinate cum signaturis per scripturam applicatis. ‹ 20 Wie wißt Ihr, wo ein Buch steht?«
Malachias zeigte auf die kurzen Bemerkungen hinter jedem Titel, und ich las: iii, IV gradus, V in prima graecorum; ii, V gradus, VII in tertia anglorum und so weiter. Ich begriff, daß die erste Zahl offenbar für die Position des Buches auf dem Bord oder gradus stand, das seinerseits durch die zweite Zahl bezeichnet wurde, während die dritte den Schrank angab, ergänzt um Hinweise auf einen Raum oder Flur in der Bibliothek, und ich wagte die Bitte um genauere Erklärung dieser ergänzenden Distinctiones. Malachias sah mich streng an. »Vielleicht wißt Ihr nicht oder habt vergessen, daß der Zugang zur Bibliothek nur dem Bibliothekar gestattet ist. Es genügt also, wenn er allein diese Angaben zu entziffern vermag.«
»Aber sagt mir, nach welcher Reihenfolge sind die Bücher hier aufgeführt?« fragte William noch einmal. »Nach Sachgebieten doch offenbar nicht.« Eine mögliche Reihenfolge nach Autoren gemäß der traditionellen Buchstabenfolge im Alphabet erwähnte er gar nicht, da diese sinnreiche Anordnung erst vor wenigen Jahren in manchen Bibliotheken eingeführt worden ist und damals noch kaum gebräuchlich war.
»Die Ursprünge dieser Bibliothek liegen in der Tiefe der Zeiten«, sagte Malachias würdevoll, »und so sind die Bücher hier aufgeführt nach der Reihenfolge ihres Erwerbs, ob durch Kauf oder Schenkung, das heißt nach dem Zeitpunkt ihres Eingangs in unsere Mauern.«
»Schwer zu finden«, bemerkte William.
»Es genügt, daß der Bibliothekar sie kennt und bei jedem Buch weiß, wann es in die Bibliothek gekommen ist. Die anderen Mönche können sich auf sein Gedächtnis verlassen.« Es klang, als spreche er nicht von sich selbst, sondern von einer anderen Person; in Wahrheit sprach er wohl von dem Amt, als dessen Diener und treuer Verwalter er sich begriff, jüngstes Glied einer langen Kette von Vorgängern, die ihr kostbares Wissen jeweils an ihre Nachfolger weitergereicht hatten.
»Verstehe«, sagte William. »Wenn ich zum Beispiel etwas über das Pentagon Salomonis suchen würde, ohne bereits zu wissen, was es darüber gibt, so würdet Ihr mir das Buch nennen können, dessen Titel ich vorhin las, und es mir aus dem Oberstock holen.«
»Gewiß, wenn Ihr wirklich etwas über das Pentagon Salomonis wissen müßtet«, antwortete Malachias. »Bei diesem Buch würde ich allerdings lieber erst den Rat des Abtes einholen.«
William schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Wie ich erfahren habe, ist kürzlich einer Eurer Miniaturenmaler … verschwunden. Der Abt hat mir viel von seiner Kunst erzählt. Könnte ich wohl die Handschriften sehen, die er ausgeschmückt hat?«
»Adelmus von Otranto«, antwortete Malachias und sah William mißtrauisch an, »war noch jung und bemalte daher nur die Ränder der Manuskripte. Er hatte eine sehr lebhafte Phantasie und vermochte aus Bekanntem Unbekanntes und Überraschendes zu komponieren, wie wenn man Menschenleiber mit Pferdeköpfen vereint. Aber seht selbst, hier sind seine Bücher. Niemand hat sie bisher angerührt.«
Wir traten an den Tisch, an dem Adelmus gearbeitet hatte, und erblickten einen Stoß reich bemalter Bögen. Es waren Bögen aus feinstem Vellum, dem König der Pergamente, und der letzte war noch mit Klammern am Tisch befestigt. Gerade erst mit dem Bimsstein abgerieben, mit Kreide weich gemacht und mit dem Eisen geglättet, war er nur zur Hälfte mit Schrift bedeckt, doch der Maler hatte bereits begonnen, die Linien der Randfiguren mit winzigen Nadelstichen vorzuzeichnen. Die anderen Bögen waren indes schon fertig, und als wir ihrer ansichtig wurden, konnten weder William noch ich einen Ausruf der Bewunderung unterdrücken. Es handelte sich um einen Psalter, an dessen Rändern sich eine für unsere Sinne verkehrte Welt abzeichnete – als entfaltete sich an den Rändern eines Diskurses, der per definitionem Diskurs der Wahrheit ist, aufs innigste mit ihm verbunden durch wundersame Rätsel und Anspielungen, ein lügnerischer Diskurs über ein Universum, das auf dem Kopf steht, so daß darin die Hunde vor den Hasen fliehen und die Hirsche den Löwen jagen. Kleine Köpfchen mit Vogelfußen, Tiere mit Menschenhänden auf dem Rücken, haarige Häupter, aus denen Füße wuchsen, zebragestreifte Drachen, Vierbeiner mit Schlangenköpfen,
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