Der Name der Rose
geschaffenen unter dem Vorwand, Gottes Gebote zu lehren!«
»Aber der große Areopagit hat gelehrt«, gab William sanft zu bedenken, »daß Gott nur durch die allerverzerrtesten Dinge benannt werden kann. Und Hugo von Sankt Viktor hat uns daran erinnert, als er sagte: Je mehr die Ähnlichkeit sich unähnlich macht, desto mehr enthüllt sich die Wahrheit unter dem Schleier erschreckender oder schamloser Figuren und desto weniger heftet sich die Phantasie ans fleischliche Verlangen, sondern sieht sich vielmehr gezwungen, die Geheimnisse aufzudecken, die sich unter der Schändlichkeit der Bilder verbergen …«
»Ich kenne das Argument! Und voller Scham muß ich zugeben, daß es das Hauptargument unseres Ordens war, als die cluniazensischen Äbte im Streit mit den Zisterziensern lagen. Aber Sankt Bernhard hatte recht: Wer ständig Monster darstellt und Mißbildungen der Natur, um die Dinge Gottes zu offenbaren per speculum et in aenigmate , der gewinnt allmählich Gefallen an den Scheußlichkeiten, die er ersinnt, und ergötzt sich an ihnen und sieht am Ende nichts anderes mehr als sie! Schaut nur, ihr, die ihr noch euer Augenlicht habt, auf die Kapitelle in eurem Kreuzgang«, und er deutete mit erhobener Hand aus dem Fenster hinüber zur Kirche. »Was bedeuten unter den Augen der meditierenden Mönche jene lächerlichen Monstrositäten, jene deformierte Formenpracht, jene formenprächtigen Deformationen? Jene schmutzigen Affen? Jene Löwen, jene Zentauren, jene menschenähnlichen Wesen, die den Mund am Bauch haben und nur einen Fuß und Segelohren? Jene gescheckten Tiger, jene kämpfenden Krieger, jene munter in ihre Hörner stoßenden Jäger? Und jene vielen Leiber an einem einzigen Kopf und jene vielen Köpfe an einem einzigen Leib? Vierbeiner mit Schlangenhäuptern, Fische mit Vierbeinerköpfen, da ein Tier, das vorn ein Pferd zu sein scheint und hinten ein Ziegenbock, dort ein pferdeähnliches Wesen mit Hörnern, und so immer weiter! Heutzutage ist es für einen Mönch ergötzlicher, die steinernen Bilder zu lesen anstatt die gelehrten Schriften, und die Werke von Menschenhand zu bewundern anstatt fromm zu meditieren über die Gesetze Gottes! Schande, Schande über die Gier eurer Augen und euer Gelächter!«
Schweratmend hielt der Greis inne. Und ich bewunderte sein genaues Gedächtnis, hatte er doch, obwohl vielleicht schon seit Jahren erblindet, noch sämtliche Bilder im Kopf, deren Schändlichkeit er so lebhaft schilderte. Ja, mir kam der Verdacht, daß diese Bilder ihn seinerzeit sehr erregt haben mußten, als er sie sah, wenn er sie immer noch mit solcher Leidenschaft zu beschreiben vermochte. Doch es ging mir auch später in meinem Leben noch häufig so, daß ich die verführerischsten Schilderungen ausgerechnet in Texten jener höchst tugendsamen und standhaften Männer fand, die den Zauber ihrer verderblichen Wirkung am allerheftigsten brandmarkten. Was nur bezeugt, daß diese Männer von so großem Eifer für das Zeugnis der Wahrheit erfüllt sind, daß sie sich in ihrer Liebe zu Gott nicht scheuen, das Böse mit allen seinen verführerischen Reizen auszustatten, um die Menschen besser ins Bild zu setzen über die teuflische Art und Weise, wie es sie verzaubert. Und tatsächlich riefen die Worte des grimmen Jorge in mir eine große Lust hervor, die Tiger und Affen im Kreuzgang, den ich noch nicht bewundert hatte, zu betrachten. Aber Jorge unterbrach den Lauf meiner Gedanken, indem er von neuem zu sprechen anhob, diesmal etwas ruhiger.
»Unser Herr Jesus Christus bedurfte nicht solcher Narreteien, um uns den rechten Weg zu zeigen. Nichts in seinen Gleichnissen reizt uns zum Lachen oder zum Schaudern. Adelmus jedoch, den ihr heute als Toten beklagt, hatte Gefallen an den Monstern, die er ersann, er genoß ihre Ungeheuerlichkeiten so sehr, daß er die letzten Dinge, deren materielle Figur sie doch sein sollten, aus den Augen verlor. Und er durchlief alle, ich sage alle«, und seine Stimme wurde aufs neue ernst und drohend, »alle Wege der Schändlichkeit! Und dafür hat ihn Gott zu strafen gewußt.«
Ein lastendes Schweigen legte sich auf die Runde. Es war Venantius von Salvemec, der es zu durchbrechen wagte.
»Ehrwürdiger Jorge«, sagte er, »Eure Tugend macht Euch ungerecht. Zwei Tage bevor Adelmus starb, wart Ihr Zeuge eines gelehrten Disputes, der hier im Skriptorium stattfand. Adelmus legte großen Wert darauf, daß seine Kunst, trotz Darstellung wunderlicher und phantastischer Dinge, dem Ruhme
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