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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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herein. Wir durchquerten die Küche und gingen durch diese Tür ins Freie hinaus. Vor uns lag die Tenne: ein langer Hof, der sich hinter der Kirche am Ostrand des Plateaus nach Süden erstreckte, linker Hand begrenzt von einer Reihe flacher Bauten, bei denen es sich, wie wir von unserem Führer erfuhren, um die Ställe der Schweine, der Pferde, der Ochsen, der Hühner und schließlich den überdachten Rinderpferch handelte. Auf dem Platz vor dem Schweinestall waren Männer damit beschäftigt, in einem großen Bottich das Blut der frisch geschlachteten Schweine zu rühren, damit es, wie Severin uns erklärte, nicht gerann. Denn wenn es gut und unverzüglich gerührt werde, fügte er hinzu, bleibe es dank der kalten Witterung mehrere Tage lang frisch, und dann könne man Blutwurst daraus machen.
    Wir gingen zurück ins Aedificium und warfen nur einen kurzen Blick ins Refektorium, das wir durchqueren mußten, um den Ostturm zu erreichen. Unter dem Nordturm am oberen Ende der Halle sahen wir einen großen Kamin; der Ostturm enthielt eine breite Treppe in Form einer Schnecke, die ins Obergeschoß zum Skriptorium führte. Über diese Treppe, sagte Severin, begäben die Mönche sich jeden Tag an ihre Arbeit; oder auch über zwei andere, die enger seien, aber dafür gut beheizt, da sie spiralförmig hinter dem Kamin sowie hinter dem Backofen in der Küche aufstiegen.
    William fragte, ob wir auch sonntags jemanden im Skriptorium antreffen würden. Severin lächelte und gab zur Antwort, für einen Benediktinermönch sei die Arbeit Gebet, und sonntags seien die Gottesdienste zwar etwas länger, aber die mit Büchern befaßten Mönche verbrächten gleichwohl ein paar Stunden droben, meist beschäftigt mit fruchtbarem Austausch gelehrter Bemerkungen, kluger Ratschläge und Reflexionen über die heiligen Schriften.

NACH NONA
    Worin das Skriptorium besichtigt wird und man viele fleißige Forscher, Kopisten und Rubrikatoren kennenlernt sowie einen blinden Greis, der auf den Antichrist wartet.
    Während wir die gewundenen Stufen erklommen, bemerkte ich, daß William prüfend die Fenster musterte, die dem Treppenhaus Licht spendeten. Ich war vermutlich schon im Begriff, ebenso scharfsinnig wie mein Meister zu werden, denn ich sah auf den ersten Blick, daß sie dank ihrer Anlage schwer erreichbar waren. Auch die Fenster des Refektoriums – die einzigen, die sich im Erdgeschoß des Aedificiums zum Steilhang öffneten – schienen mir nicht eben leicht erreichbar zu sein, da sich unter ihnen keinerlei Möbel befanden.
    Als wir am oberen Ende der Treppe angelangt waren, traten wir aus dem Ostturm in das Skriptorium, und im selben Moment entfuhr mir unwillkürlich ein bewundernder Ausruf. Das Obergeschoß war nicht zweigeteilt wie das untere, und so öffnete sich der Raum vor meinen Augen in seiner ganzen immensen Weite. Die von robusten Pfeilern gestützten Deckenbögen, rundgewölbt, aber nicht zu hoch (niedriger als in einer Kirche, aber höher als in jedem Kapitelsaal, den ich jemals gesehen), überspannten einen hellen, von herrlichem Licht durchfluteten Saal, denn an jeder der vier Hauptseiten öffneten sich drei mächtige Fenster, während fünf kleinere die fünf Außenmauern aller vier Türme durchbrachen und schließlich acht hohe und schmale Fenster das Licht aus dem achteckigen Innenhof eintreten ließen.
    Die Fülle der Fenster bewirkte, daß der große Saal sich auch zu dieser spätherbstlichen Nachmittagsstunde noch eines gleichmäßigen, diffusen Lichtes erfreuen durfte. Die Scheiben waren nicht farbig bemalt wie in Kirchen, vielmehr umspannten die bleiernen Fassungen klare Gläser, durch welche folglich das Tageslicht in denkbar reinster Form eintreten konnte, um, von keiner menschlichen Kunst moduliert, seinen hehren Zweck zu erfüllen, nämlich die Arbeit des Lesens und Schreibens aufs trefflichste zu erhellen. Ich habe in späteren Jahren und andernorts noch manches Skriptorium gesehen, aber keines, das mit den Bündeln des physischen Lichtes, welches die Umwelt erleuchtet, so wunderbar das im Licht verkörperte Geistesprinzip erstrahlen ließ, nämlich die claritas , Quelle aller Schönheit und Weisheit, unabtrennbares Attribut der majestätischen Proportionen des Saales. Dreierlei nämlich wirkt zusammen, um die wahre Schönheit zu schaffen: erstens die Unversehrtheit oder Vollendung, weswegen uns unvollendete Dinge häßlich erscheinen, zweitens die maßvolle Proportion oder Harmonie, und drittens eben die Klarheit

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