Der Name der Welt
– kurz nach Sonnenuntergang war es empfindlich kalt geworden – an einem mit kariertem Leinen gedeckten Zweiertisch. Wir waren früh dran. Ein Ober lief herum und zündete Kerzen an, die in Chiantiflaschen steckten. Ich rechnete damit, dass J. J. auf seine Trauer zu sprechen kommen würde, doch anstatt das zu tun, fragte er mich, während wir den Hauswein tranken und auf das Essen warteten, nach Senator Thom aus. «Ich bin neugierig – ich versuche, aus Ihnen schlau zu werden», gestand er. «Mochten Sie den Mann, oder haben Sie ihn gehasst? Sind Sie von selbst gegangen oder gefeuert worden?»
«Endlich! Jemand, der taktlos genug ist, das zu fragen.» «Sie nehmen mir das doch nicht übel, oder?» «Nein. Gar nicht. Das hat bloß noch nie jemand gefragt.» «Ich frage deshalb, weil er gerade mal wieder in den Nachrichten auftaucht. Erst gestern Abend habe ich ihn bei einem Rededuell mit Journalisten gesehen.»
Kürzlich war die moralische Integrität des Senators öffentlich angezweifelt worden. Nicht zum ersten Mal. «‹Schlag jede Schlacht im Fernsehen›», zitierte ich. «Eines seiner Mottos. Er hat Tausende.»
«Viele prophezeien ihm das baldige Karriere-Ende.»
«Ich nicht.»
«Haben Sie etwas erreicht? Als Sie für ihn arbeiteten?»
«In Washington habe ich erfahren, was jemand mir gegenüber mal so ausgedrückt hat: ‹die Versuchung, Gutes zu tun›. Ein Fluch ist das. Sobald er auf mir lastete, verlor ich die Orientierung. Ich weiß heute noch nicht, ob ich durch meine Kündigung einer gefährlichen Versuchung erlegen bin oder einer verlockenden widerstanden habe.»
«Alle Achtung. Klingt wie Zen», sagte er. «Muss ich mir darauf einen Reim machen können?»
«Im Zentrum Washingtons herrscht absolute Ruhe», sagte ich, und er faltete mit der beschwichtigenden Gestik eines Mannes, der in einem Linienbus neben einem Psychofall sitzt, die Hände. «Es ist ganz natürlich, darüber in Paradoxa zu sprechen», beharrte ich. «Dort geschieht alles und nichts. Alles ist bedeutsam und vollkommen sinnlos. Die Motive sind lauter, aber was immer man anfasst, stinkt. Und am Ende geht man hochgelobt in Pension.»
«Na, das ahnten wir doch schon, nicht wahr? Warum haben Sie sich dann engagieren lassen?»
«Ich hätte ein halbes Dutzend Erklärungen dafür», sagte ich, «aber ich gebe Ihnen die kürzeste: Es hatte finanzielle Gründe. Ich wollte mich verändern, und ich war neugierig, aber in erster Linie hatte ich einfach nur kein Geld. Ich wollte dieses Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben eines Highschool-Lehrers nicht mehr. Die Aussicht darauf, irgendwann mal richtig viel zu verdienen, hat mir einiges bedeutet.»
«Aber Sie haben nicht viel verdient.»
«Doch, zumindest mehr als vorher.»
«Reich sind Sie aber nicht geworden.»
«Nein.»
«Und das macht Ihnen nichts aus.»
«Nein. Im Moment nicht. Sollte es das?»
«Nein», sagte er. Dann: «Wie sehr haben Sie sich verbessert?»
«Mein Gehalt ist von gut dreißigtausend auf – nach zwei oder drei Jahren – zirka achtzigtausend gestiegen. Knapp darunter.»
«He. Das ist nicht schlecht!»
«Ich war als geschäftsführender Büroleiter angestellt. Darum habe ich im oberen Bereich verdient.»
«Und wie sieht’s heute aus mit der Politik bei Ihnen? Oder bin ich da zu indiskret?»
«Sie meinen, ob ich für Senator Thom stimmen werde?» Den kontroversen Senator Tom-Tom nannten ihn seine Wähler. Auch: den großen Häuptling. Zuerst war ich in der Hoffnung bei ihm geblieben, Einfluss nehmen zu können, später, am Tag seiner Niederlage präsent zu sein, und schließlich, ihm am Zeug zu flicken. Aber er war sauber, und es wäre unfair zu unterschlagen, dass er sogar zu den Guten gehörte. Nur waren seine Prinzipien kleingeistig und sein Horizont beschränkt. Als Republikaner wäre er eher durchgegangen, aber er war Demokrat – warum? Warum nicht? Ich halte inzwischen von beiden Parteien nicht mehr viel, und mir ist schleierhaft, wie ich jemals irgendwelche Unterschiede zwischen ihnen ausmachen konnte. Das Schlimmste war, dass ich irgendwann im Verlauf meines Besuchs auf jenem Planeten aufgehört hatte, das alles mit Humor zu nehmen. Würde ich also für Senator Thom stimmen?
«Ich gehe nicht mehr wählen», sagte ich zu J. J.
Die Spaghetti und die Lasagne kamen. J. J. wechselte das Thema, wollte wissen, was ich über das Unterrichten, die Studenten, den akademischen Betrieb dachte. Und nun kapierte ich – er führte doch ein
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