Der Name der Welt
uns bei Ted MacKey begegnet waren, und das nur flüchtig. Heute Abend hatte ich sie zwar sofort wahrgenommen, aber nicht damit gerechnet, wiedererkannt zu werden. Ich war verblüfft. Wahrscheinlich sah man mir das an. Sie lächelte und ging weiter.
Bevor wir uns alle zum Essen niederließen, wollte ich ihren Namen herausbekommen haben. Das entpuppte sich als nervenaufreibendes Unterfangen, was mich nicht sonderlich überraschte. Noch kaum zwei Wochen zuvor hatte ich auf ihre nackte Scham gestarrt. Ich bemühte mich, ihren Weg wie zufällig zu kreuzen. Ich schlich mich von der Seite an, und wir näherten uns tangential, wie zwei Objekte im All. «Sie haben eine übertriebene Vorliebe für diese Dinger», sagte sie. Sie meinte die Häppchen auf dem Tablett.
«Nein. Ich habe versucht, mich an Ihren Namen zu erinnern. Tut mir leid. Er fällt mir nicht mehr ein.»
«Flower.» Nach einem herausfordernden Takt Pause, in dem ich mir mühsam die Frage verkniff, ob das ein Witz sein sollte, sagte sie: «Ja, Flower Cannon.»
«Oh! – Cannon.»
«Oh?»
«Ich habe ihn wohl nicht mitbekommen, als wir uns damalsbegegnet sind.»
«Sonst hätten Sie sich erinnert.»
«Ja.»
«Aber Sie haben doch letzten Monat, glaube ich, eine meiner Performances gesehen.»
«Tja», sagte ich.
«Hat sie Ihnen gefallen?»
«Tja …» Schon blieb ich hängen. Mein Kopf war auf einmal völlig leer. «Das ist wohl schon mein ganzer Beitrag dazu.»
Flower Cannon lachte mich aus und ging weiter.
Was Kelly Stein betrifft, J. J.s Frau, so wechselte ich über ein beiläufiges Vorgestelltwerden hinaus kein Wort mit ihr, denn während des Essens saß sie ganz unten am langen Tisch, in einem anderen Gesprächszirkel.
Dagegen saß ich Kit Nickerson beinahe unmittelbar gegenüber: eine weit weniger eindrucksvolle Gestalt, als die Schwarzweißfotos auf den Umschlägen seiner Bücher suggerierten, ein hochaufgeschossener, dünner Mann mit einer platten Boxernase, einem weit vorstehenden Adamsapfel und freundlichen, wässrigen Augen. Er stotterte ein wenig. Das hörte aber auf, als er sich mit einem jungen Autor zu streiten begann, der ein paar Plätze von ihm entfernt auf der anderen Tischseite saß, sodass ihr Wortwechsel ein kleines Publikum in Bann schlug. Es fiel schwer, sich nicht ein bisschen für den anderen Burschen zu genieren, einen Gastdozenten am hiesigen Institut für Anglistik, wie Kit zwei Jahre zuvor selbst einer gewesen war, als er sich mit Kelly Stein zusammengetan hatte – so etwas wie ein Wunderkind, dieser viel jüngere Mann, noch in den Zwanzigern, halb verloren in seinen weiten Klamotten, mit schulterlangem Haar und einem sanften Gesicht, das ihn zumindest in meinen Augen von jedem Verdacht befreite, streitsüchtig zu sein. «Wollen Sie etwa, dass ich lüge?», fragte Kit ihn. «Ich brächte das bestimmt fertig. Lügen ist so eine Art Berufung für mich.» Das war die erste vernehmliche Äußerung.
Offenbar hatte der junge Mann dem berühmten Romanautor vorgeworfen, die früh in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt zu haben. Wie er sich inmitten all des Smalltalks dazu verstiegen hatte, wäre schwer nachzuvollziehen gewesen, aber nun, da er sich sozusagen außerhalb des Scheins der Partylichter draußen im Dunkel mit dem großen Mann wiederfand, gab er nicht klein bei, das muss man ihm lassen. Ich sah seine Finger zittern, als er sein Wasserglas berührte. Es gelang ihm, den Blick nicht zu senken. «Die Menschen in Ihren frühen Büchern unterschieden sich noch sehr. Sie haben da wirklich die Welt abgebildet. Ich meine, diese Figuren zum Beispiel in Nach Tränen trachten, aber eigentlich die frühen insgesamt … die haben etwas Volksnahes, das sind Leute mit zumindest einer gewissen Bildung und echter Leidenschaft, aber streng genommen könnten sie aus jeder Schicht und jedem Milieu stammen. Sagen wir’s mal so: Sie haben sich ganz schön umgetan. Mittlerweile geht es nur noch um juwelenbehängte Menschen, Menschen auf Yachten, Menschen auf Staatsempfängen …Tut mir leid, also ich sage das als Bewunderer, als Verehrer, sogar als jemand, der Ihnen nacheifert – aber glauben Sie nicht, dass Sie sich allmählich in eine Art Marionette der Privilegierten verwandeln?»
«Aber Seth», sagte Kit, «Sie spielen hier den Anti-Snob. Haben privilegierte Menschen etwa keine Gefühle? Haben sie kein Seelenleben? Kann ihre Leidenschaft nicht echt sein?»
«Es geht da doch um mehr als ihre materiellen Lebensumstände. Heutzutage
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