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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Johnson
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Vorstellungsgespräch.
    Wie viele Vorstellungsgespräche und wie viele J. J.s, die wie viele Nudeln um wie viele Gabeln drehten, hielt die Zukunft wohl noch bereit? Die Frage stürzte mich in ein tiefes Loch. Hat die Langeweile in diesem Kaff, dachte ich, eigentlich irgendwelche Grenzen? Als wir beide den Nachtisch ausgeschlagen und unseren Kaffee halbwegs ausgetrunken hatten, entschied ich mich: Nein, hat sie nicht. «Wissen Sie, was?», sagte ich. «Ich denke, ich lasse es bei diesem nächsten Jahr bewenden. Ich glaube, ich bin fertig mit dem Geistesleben.» Das auszusprechen schien keine große Affäre zu sein, aber es war notwendig. Wie dass man sich endlich mal die Sekunde Zeit nahm, einen losen Schnürsenkel festzuziehen.
    «Fertig mit dem Geistesleben! Jetzt bin ich vollends davon überzeugt, dass Sie genau der Mann sind, den wir im Forum brauchen.»
    «Nein. Danke, nein.»
    Ein kurzes Schweigen zwischen uns. Am Nebentisch hörten wir einen Mann und eine Frau reden. Die Frau sprach von irgendeiner Beerdigung. J. J. wurde aufmerksam. Er lauschte richtiggehend. Die Frau sagte jetzt: «In Alabama ist es doch schwül, oder?»
    «Schwül?», sagte der Mann. «Es ist eben Alabama.»
    «Tut mir leid», sagte J. J. «Entschuldigen Sie –»
    Sie sahen beide her.
    «Trevor Watt ist tot?», sagte J. J. zu ihnen.
    Sie wechselten einen schnellen Blick, dann sahen sie wieder J. J. an. «Ja – er ist tot.» Das kam ihnen unisono aus dem Mund.
    Der Mann sagte: «Er hatte letzten Sonntag einen Herzinfarkt.»
    J. J. räusperte sich. Er schien bestürzt. «Tut mir leid», sagte er noch einmal. «Er war ein guter Bekannter von mir. Wo war er zuletzt?»
    «An der Brown University», sagte die Frau.
    Der Mann sagte: «Ja, aber er war im Ruhestand. Er lebte in –»
    «Irgendwo da unten in Alabama», sagte die Frau.
    Während wir die Rechnung beglichen, unterhielt J. J. sich weiter mit den beiden, und ich forderte ihn auf, sich Zeit zu lassen. Ich ging nach draußen und steckte mir auf dem Gehweg eine Zigarre an. Ich erzähle das hier so beiläufig, aber eigentlich habe ich nie geraucht. Diese Zigarre war mir geschenkt worden. Vielleicht beschenkten oder mochten mich die Leute deshalb, weil sie spürten, dass ich so gut wie tot war und ihnen nichts anhaben konnte.
    Ich hatte eigentlich darauf gewartet, dass J. J. von seiner Frau sprechen und an diesem Tag seiner Scheidung etwas von seiner Verbitterung herauslassen würde. Aber nichts dergleichen war geschehen. Er und seine Frau lebten bereits seit mehreren Jahren getrennt. Dass nunmehr auch in juristischer Hinsicht das Band zerschnitten war, schien ihn zwar nachdenklich gestimmt zu haben, aber ich denke, im Großen und Ganzen war er darüber hinweg.
    Tatsächlich war ich J. J.s Frau erst ein paar Wochen zuvor begegnet. Das war bei einer großen Abendveranstaltung im Haus eines Dekans gewesen, einer jener altmodischen Dinnerpartys, bei der zwar viele zum Essen kommen, aber die meisten – nämlich die Studenten – nach dem Cocktail hinauskomplimentiert werden. Sie war mit T. K. Nickerson, dem Schriftsteller, der sie uns abspenstig gemacht hatte, auf der Durchreise gewesen. Alle nannten ihn «Kit». Sie hieß Kelly. Kit und Kelly waren im tiefsten Winter aus Europa angereist oder nach Europa unterwegs. Kelly war eine schöne Frau, auffallend, ohne deshalb glamourös sein zu müssen. Sie warf sich lediglich ein lilafarbenes Seidenkleid über, und schon konnte sie einen Abend in einem Raum voller Männer verbringen, die sich alle Mühe gaben, sich nicht von ihr den Kopf verdrehen zu lassen. Tiberius Soames, mein haitianischer Historiker-Kollege, belegte sie früh mit Beschlag und wich ihr nicht mehr von der Seite. Ihre Augen wirkten schläfrig, aber ihr Blick sprühte. Sie hatte sehr blasse Wimpern. Glattes rotblondes Haar bis auf die Schultern.
    Noch ein Rotschopf war bei der Dinnerparty an diesem Abend, die rothaarige Cellistin, die Akteurin von der Cannon-Performance. Sie arbeitete für den Partyservice, half in der Küche und brachte das Essen. Sie trug eine grau-weiße Serviererinnentracht, hatte das Haar unter einem schwarzen Netz aufgesteckt und sah sehr schlicht aus. Aber das betonte nur noch die Aura von Aufmüpfigkeit. Mit ihrem Tablett schritt sie unter uns einher wie die heimliche Königin eines Einbrechertrupps, der den Laden ausbaldowert. Als ich nach einem ihrer Häppchen griff, lächelte sie und sagte: «Hallo, Michael Reed.»
    Es war etwa einen Monat her, dass wir

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