Der Name dieses Buches ist ein Geheimnis
konnte.
»Ich bin Daisy.«
Daisy trat in den Lichtkegel der Straßenlaterne und entpuppte sich eindeutig als Frau, wenn auch nicht als eine sehr weibliche. Ohne ein weiteres Wort öffnete sie die hintere Wagentür und forderte Kass mit einem Wink ihrer weißen Handschuhhand auf einzusteigen.
Kass rief sich in Erinnerung, dass sie eine Berühmtheit war und dass sie sich daher von einem Chauffeur nicht einschüchtern lassen würde (selbst wenn es sich dabei um die riesenhafteste Frau handelte, die sie je gesehen hatte). Sie streckte das Kinn vor und stieg ungeniert ein, als würde sie jeden Tag in Luxusautos mit eigenem Chauffeur sitzen.
Erst als sie es sich in dem Plüschsitz bequem gemacht hatte, merkte sie, dass ihre Hände wie Segel flatterten. Sie musste sich auf sie draufsetzen, damit das Zittern aufhörte.
Während der nächsten Stunden sagte niemand ein Wort. Kass sah so gut wie nichts durch die beschlagenen Fensterscheiben. Sie hatte das Gefühl, als würde es allmählich bergauf gehen, aber die Limousine war so viele Kurven gefahren, dass Kass jede Orientierung verloren hatte. Zu spät dachte sie an Hänsel und Gretel und daran, dass man, wenn man in einen unbekannten Wald geht, klugerweise eine Spur aus Krümeln auslegt.
Wenn niemand nach ihr suchte und sie aufspürte, wie sollte sie dann jemals wieder nach Hause zurückfinden?
Sie ermahnte sich, ruhig zu bleiben, aber die Zweifel wollten keine Ruhe geben. Bis zu diesem Augenblick war sie so damit beschäftigt gewesen, in das Mitternachtssonne Sensorium und Spa zu gelangen, dass sie sich nicht die Zeit genommen hatte, darüber nachzudenken, was sie tun würde, wenn sie erst einmal dort war. Nun aber fragte sie sich, wie sie Benjamin finden sollte. Und vor allem, wie sie ihn von dort wegbringen konnte.
Und da waren auch noch andere düstere Fragen, die an ihr nagten: Warum hatten Dr. L und Madame Mauvais Benjamin entführt? Was hatten sie mit ihm vor? Was war aus Luciano, dem Bruder des Magiers, geworden? Würde sie ihn antreffen, noch immer ein Gefangener nach so vielen Jahren? Inzwischen war er ein alter Mann, die glanzvollen Tage im Zirkus waren lange vorbei.
Und was war mit Pietro, dem Magier? Welches schreckliche Geheimnis hatte er entdeckt? Würde sie stark genug sein, sich dem zu stellen, wenn es dazu kommen sollte?
Plötzlich fuhr die Limousine um eine scharfe Kurve und durchbrach die Wolkendecke.
Kass wischte über die Fensterscheibe und spähte nach draußen. Der Himmel war sternenklar und ließ einen nicht länger an Gespenstergeschichten denken, sondern an Science-Fiction und Weltraumreisen. Ein perfekter Himmel, um nach Kometen Ausschau zu halten oder Sternenkonstellationen zu betrachten, wenn man Zeit und Muße dazu hatte. (Leider hatte Kass weder das eine noch das andere.) Kass konnte nicht viel über die Umgebung sagen, außer dass sie in der Nähe eines Berggipfels waren. Unter ihnen erstreckte sich eine weite weiße Wolkendecke, die im Mondlicht schimmerte.
Das Fahrzeug bog um eine weitere scharfe Kurve, danach ging es abwärts in ein kleines, abgeschiedenes Tal.
»Dort drüben . . .«, sagte Daisy und brach das Schweigen.
Erst jetzt fiel Kass der warme Glanz auf, in den die Landschaft getaucht war. Sie reckte den Hals und entdeckte den Grund dafür: ein kräftiges goldenes Licht, das hinter den Bergen aufstrahlte. Es sah aus wie ein Sonnenaufgang, aber das war unmöglich, denn es war kurz vor Mitternacht.
»Wir sind da«, sagte Daisy. »Die Mitternachtssonne.«
Kapitel neunzehn
Die Mitternachtssonne
H offentlich verrate ich nicht zu viel, wenn ich dir sage, dass die Mitternachtssonne nur zwei Tage später in Flammen aufging. Wie und warum das Feuer ausbrach und wer, falls überhaupt, zu Asche verbrannte und ob oder ob nicht Schwefelgeruch in der Luft lag – das sind Fragen, die vorerst zurückgestellt werden müssen. In der Zwischenzeit möchte ich dir diesen Ort genauer schildern. Da es ihn nun nicht mehr gibt, kannst du ihn auch nicht aufspüren, ganz gleich, wie gut deine Informationen sind.
Man lernt so viel in der Schule, was man später im Leben nicht mehr braucht. Für mathematische Aufgaben hat man einen Taschenrechner, für fehlerfreies Schreiben gibt es das Rechtschreibprogramm. Geschichtliche Daten kann man in einem Lexikon nachlesen. Warum sollte man so viel Zeug im Kopf behalten, wenn es mühelos zwischen Buchdeckeln zu finden ist?
Aber es gibt ein Fach, das sich von Zeit zu Zeit als äußerst nützlich
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