Der Narr
der Schnauzbart war gestutzt. Dieser Mann hätte im besten Anzug im nobelsten Lokal von Wien sitzen können, aber seine Gesichtszüge hätten immer verraten, dass er nicht dazu gehörte. Ein Blick in diese Wolfsaugen reichte aus, um zu erkennen, wie sehr dieser Ex-Knacki vom Hass zerfressen war.
Kratochvil war ein ›zäher Bursch‹, wie man im Volksmund sagte. Er war vielleicht niemand, der einen Gewichtsrekord beim Bankdrücken aufstellen konnte, aber bei einem harten Survival-Training würden durchtrainierte Topathleten vor diesem sehnig-schlanken Bastard umfallen. Er würde sich ohne Rücksicht auf seinen Körper jeder Tortur unterwerfen, bis er sie hinter sich gebracht hätte.
Dr. Heisenstein konnte nicht sofort mit seinem eigentlichen Anliegen vorpreschen. Schnell war ein Vorwand gefunden, warum er ausgerechnet seinen Fahrer am Todestag seiner Tochter in sein Büro zitieren ließ.
»Zahlreiche Termine wurden heute gecancelt. Die perfekte Gelegenheit, Mitarbeitergespräche zu führen, die sonst immer disponiert werden.«
Wie gerne hätte er Kratochvil während der Fahrt nach Hause einfach befohlen, seine Tochter zu rächen! Doch auch seine Macht kannte ihre Grenzen. Er musste die Kunst anwenden, die er im Laufe seiner Berufsjahre gelernt hatte: Verhandeln. Nachfrage schaffen, den Gegenüber aus der Defensive herauslocken und dann mit Bomben und Granaten zuschlagen. Und dennoch war höchste Vorsicht geboten. Seine Versuche, freundlich zum einfachen Volk zu sein, waren oft gescheitert, weil er die Menschen in einem unkontrollierten Moment so behandelte, wie es ihnen in seinen Augen zustand.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Sein Gast schien sprachlos zu sein. Typisch! Vermutlich überlegte sein Gast, wo er bei so viel freier Fläche im blankgeputzten Büro die Bar samt Barkeeper aufbauen würde. Der Mob verstand nichts. Wie konnte er auch? Zen-Philosophie wurde der Unterschicht nicht gelehrt. Bei Heisenstein wurde sogar jedes Papierdokument als altmodisches Informationsmedium nach einem kurzen Scanprozess eliminiert. Es galt, jede Form der Verschwendung zu vermeiden und von Notwendigem nur das Beste zu nehmen. Jeder kleinsten Abweichung von Ordnung und Perfektion musste entgegengewirkt werden. Einmal eingenistet, breitete sich das Chaos sonst aus wie ein Virus.
Heisenstein bot seinem Gast an, auf der Sitzgruppe Platz zu nehmen. Sicher hatte Kratochvil keine Ahnung, dass er auf Mobiliar saß, das vermutlich wertvoller war, als die gesamte Einrichtung seines Wohnzimmers. Heisenstein setzte sich ihm mit einer Flasche Speyside-Whiskey aus der Glenrothes Destillerie gegenüber. Er lenkte seine Gedanken auf das glorreiche Gefühl, als er im Sommer einen Gipfel erstürmt hatte. Er sah in seinem inneren Auge vor sich, wie er triumphierend neben dem Gipfelkreuz stand und nach all der Anstrengung jubelte. Er ließ dieses Bild vor seinen Augen heller und strahlender werden, konnte beinahe den scharfen Wind am Gipfel spüren, während der Triumphmarsch der Oper ›Aida‹ ihn in Gedanken in ohrenbetäubender Lautstärke begleitete. Dieses berauschende Siegesgefühl nahm er mit in sein Büro; jetzt war er bereit, zu verhandeln.
»Ich würde mich freuen, Sie zu einem Single Malt überreden zu können. Ich würde es aber auch verstehen, wenn ich alleine trinken müsste.«
Treffer! Kratochvil nahm die Einladung dankend an. Wieder einmal ein brillanter Schachzug. Wie sollte sein Gast auch ablehnen können? Immerhin hatte Heisenstein in ihm doch ein indirektes Schuldgefühl induziert. Niemand wollte einen Mann, der gerade seine Tochter verloren hatte, alleine trinken lassen. Zwei Männer mit Alkohol in der Hand, das war eine solide Grundlage – vor allem in Österreich. Er spiegelte Kratochvils Körperhaltung, indem auch er die Beine überkreuzte.
»Herr Kratochvil, wie lange sind Sie schon ein Teil der Familie?«
»Fast ein Jahr. Kann es nicht oft genug wiederholen – danke für alles!«
Der nächste Treffer: Kratochvil erinnerte sich daran, dass er Heisenstein einen Gefallen schuldig war. Nach dem Gesetz der Reziprozität würde er ein schlechtes Gewissen haben, eine Bitte abzulehnen. Genial fand er auch, sein Department, bei dem er jede Ausgabe wegoptimiert hatte, um den Shareholder Value zu maximieren, immer noch als ›Familie‹ verkaufen zu können.
Kontakte zu zwielichtigen Gestalten, zu Menschen, die keine Hemmungen vor körperlicher Gewalt hatten, waren für Heisenstein ein notwendiges Übel.
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