Der Narr
verschiedene Tage rot markiert waren.
»Was machst du da?«
Sam schrak hoch. Ihre Bettie-Page-Frisur, die er noch am Foto im Internet gesehen hatte, hatte sie auswachsen lassen. Sam erkannte jedoch einen andersfarbigen Haaransatz. Nimue! Alles in allem wirkte sie auf ihn eher wie eine zu dick geratene Morticia Addams; als wäre sie einem Sarg entstiegen. Die Augen waren so dick mit schwarzem Kajal geschminkt, dass selbst Alice Cooper noch etwas hätte lernen können. Er schätzte ihr Alter auf um die Vierzig.
»Was machst du da?«, bohrte sie scharf nach.
Sam hob die Arme und bewegte sich langsam vom Ladentisch weg. Vorsichtig hielt er ihr die Tarot-Karte hin, die er am Morgen bei sich gefunden hatte. »Da ist dein Name drauf.«
Sie nahm die Karte zögerlich entgegen und seufzte kurz, so als lastete der Kummer der Welt auf ihren Schultern. Sam war diese Mimik bekannt: Das ›Ich tu mir selbst leid‹ -G’schau, wie manche diesen Standard-Goth-Blick nannten.
»Hast du sie mir …? Ich war gestern ein wenig … also, ich kann mich nicht mehr an jedes Detail erinnern«, sagte Sam.
Sie starrte ihn mit ihren ›Röntgenaugen‹ durchdringend an und Sam war es, als könnte Nimue mit ihren Blicken durch ihn hindurchsehen. Fremde Welt! Er wich ihren Blicken aus. Wer in aller Welt lässt sich eine schwarze Witwe über die Brust tätowieren? So jemand kann doch nicht ganz normal sein.
»Du wolltest gestern die Karten gelegt bekommen«, gab sie kühl zurück. »Mit Betrunkenen arbeite ich nicht. Eine innere Eingebung verleitete mich, dir die Karte zu schenken, damit du zu mir findest. Scheint so, als hätte ich Recht behalten.«
»Wenn du mich erwartest hast, wieso hast du mich dann so angefahren?«
»Hatte Angst, du seist ein Zeuge Jehovas. Seit den Gerüchten über die Neunschwänzige unter meinem Tisch sind sie besonders penetrant.«
»Jetzt bin ich doch glatt enttarnt worden«, scherzte Sam. »Schon mal über die Strafe Gottes nachgedacht?«
»Nachgedacht?«, grinste sie hämisch. »Ich bin die Strafe der Göttin.«
Viele Freunde hatten Sam zwar die Empathie eines störrischen Esels nachgesagt, aber so, wie diese lebende Leiche aufrecht vor ihm stand, mit diesem Augenaufschlag und dem ernsten Blick einer pummeligen Möchtegern-Domina, war sogar ihm klar: Sie glaubte das wirklich!
»Kein Scherz? Dachte, du bist die Sorte Mensch, die am Sonntag in der ersten Kirchenbankreihe sitzt.«
»Den Beichtvater, der meine Sünden hört, würde der Schlag treffen.«
Gefährlich und mächtig sein zu wollen, das war für Sam nichts Ungewöhnliches. Viele seiner Freunde hatten diese Phase auch durchgemacht: Härtester Metal oder Gangsterrap in der gefährlichsten Gang, jedem die Fresse polieren können. Die meisten von ihnen wurden heute allerdings rot, wenn er sie an ihre frühere Lebenseinstellung erinnerte. Nimue schien aber immer noch davon überzeugt zu sein, über Magie und Fertigkeiten, die sich den Normalsterblichen entzogen, mächtig und gefährlich zu sein. Dem Anschein nach eine Spätpubertierende. Im schlimmsten Fall würde sie aber auch noch mit achtzig im Rollstuhl ihr Pflegepersonal verhexen wollen.
Er seufzte, die vergangene Nacht war ihm mittlerweile eine mehrfache Lehre gewesen. Nie wieder würde er Alkohol trinken, nie wieder!
»Dein Laden?«
»Urlaubsvertretung. Bin eine Vollbluthexe, Zauberei ist mein Beruf. Ich verdiene Geld mit Vorträgen, Kartenlegen und astrologischen Beratungen.«
Das Gespräch aufrecht erhalten. Wer viel fragt, gewinnt. Er nahm das Erstbeste, was ihm in den Sinn kam.
»Wie schaut es mit Liebeszauber aus?«
»Liebeszauber können fatale Folgen haben«, erklärte sie streng und fuhr sich bei ihren Ausführungen nachdenklich mit der Hand über die Ansätze ihres Damenbarts. »Wünsche gehen in Erfüllung, wenn eine Hexe den Zauber spricht. Sei aber vorsichtig, was du dir wünschst! Hast du eine Ahnung, wie viele Klienten zu mir kommen, um erfolgreiche Liebeszauber wieder rückgängig zu machen? In den Genuss meiner Zaubersprüche kommen nur auserlesene Menschen, die mit allen Konsequenzen leben können.«
Nimue straffte ihre Schulter und atmete tief durch. Er brauchte keine okkulten Fähigkeiten, um ihre Gedanken zu lesen: Für sie war er ein minderwertiges Produkt der Leistungsgesellschaft.
»Willst du jetzt deine Zukunft kennenlernen oder nicht?«, fuhr sie fort.
»Die Vergangenheit wäre mir lieber«, versuchte es Sam hämisch grinsend, doch Nimue verzog keine Miene. Es
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