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Der nasse Fisch

Der nasse Fisch

Titel: Der nasse Fisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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aufgezogen. Wir haben uns gedacht, wenn alle sich auf die Ladung konzentrieren,
     dann achtet keiner mehr auf die Waggons.«
    »Und deswegen musste Marlow Chemikalien in Leningrad bestellen, die er am Rhein viel einfacher hätte bekommen können …«
    Sie lächelte, und es sah aus, als habe sie schon lange nicht mehr gelächelt.
    »Das Chemiekombinat war früher auch mal eine Sorokin-Fabrik«, sagte sie. »Es war schon ziemlich auffällig. Aber das sollte
     es ja auch sein.«
    Wenig später ging Rath die Treppe zu seiner Wohnung wieder hinunter, genauso leise, wie er sie hinaufgegangen war. Tausende
     Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum. Aber er wusste jetzt, was er zu tun hatte. Er wusste genau, was er zu tun hatte.
     Er wollte sich wieder wohlfühlen in seiner Haut.
    Er holte den Schlüssel der Hauswartwohnung aus dem Schuppen. Lennartz hatte angefangen, die Wohnung neu zu tapezieren, doch
     das graue Kabuff, in dem der Hauswart seinen Bürokram erledigte, hatte er ausgespart. Hier sah alles aus wie immer. Schäffners
     alte Schreibmaschine stand noch auf ihrem Platz, die gehörte zum Inventar. Rath setzte sich und zog ein paar Bögen Papier
     aus der Schublade. Dann schrieb er alles auf. Die ganze Geschichte. Aus der Sicht des einfachen SA-Scharführers Hermann Schäffner.
     Bei jedem Buchstaben, den er tippte, spürte er, wie sein Herz leichter wurde.
    In der Ferne die acht Schornsteine des Kraftwerks Klingenberg, die große Halle des Görlitzer Bahnhofs mitten im Kreuzberger
     Häusermeer. Rath genoss die Aussicht. Diesmal konnte er sie genießen. Derselbe Ausblick wie damals. Nur diesmal ungetrübt
     von Schwindelgefühlen, eine ausreichend hohe Balustrade sicherte die Besucher des Karstadt-Dachrestaurants vor dem Absturz
     auf den Hermannplatz.
    Heute hatte das neue Kaufhaus eröffnet, und es herrschte ein unbeschreiblicher Rummel. Rath hatte Weinert um das Treffen gebeten,
     und der hatte den Dachgarten vorgeschlagen, weil er sowieso hier zu tun hatte. Das Karstadtgebäude schien Rath ein passender
     Treffpunkt zu sein. Vielleicht weil die ganze Geschichte hier begonnen hatte. Als dieses Kaufhaus noch Baustelle war. Eine
     Baustelle, auf deren Gerüst er einst Franz Krajewski gejagt hatte. Wo Bruno Wolter ihm das Leben gerettet hatte. Kriminaloberkommissar
     Bruno Wolter, den der Polizeipräsident vor wenigen Tagen erst posthum für seine Tapferkeit ausgezeichnet hatte.
    Der Hermannplatz hatte sein Gesicht verändert. Der sandfarbene Koloss beherrschte den Platz und wirkte hier so deplatziert
     wie eine aztekische Pyramide. Wie zwei aztekische Pyramiden. Dieses zweitürmige Exemplar moderner Gigantomanie ausgerechnet
     in Neukölln, wo sich vor wenigen Wochen noch Polizei und Kommunisten blutige Straßenkämpfe geliefert hatten! Rath bezweifelte,
     dass das Riesenkaufhaus aus dem Arbeiterviertel ein Stück New York machen würde. Doch die Berliner hatten der Eröffnung seit
     Wochen entgegengefiebert. Und sie liebten das Kaufhaus vom ersten Tag an.
    Vor allem das Dachrestaurant, wie es schien. Rath hatte Schwierigkeiten, Weinert in dem Gewühl überhaupt zu finden. Der Journalist
     hatte in dem Gedränge tatsächlich noch einen Platz bekommen. Sogar einen mit bester Aussicht. Ob er das seinem Presseausweis
     zu verdanken hatte? Vielleicht hatte er ja mit Herrn Karstadt persönlich eben noch Kaffee getrunken.
    Den gegenüberliegenden Stuhl hatte der Journalist mit seinem Mantel okkupiert. Weinert stand auf, um Rath zu begrüßen, undfast hätte ein etwas zu forscher Zeitgenosse ihm den Stuhl weggerissen. Ein strenger Blick vertrieb ihn wieder. Sie setzten
     sich.
    »Ich hab dir schon mal einen Kaffee bestellt«, sagte Weinert. »Es dauert ewig, bis ein Kellner kommt.«
    Rath nickte. In dem Stimmengewirr um sie herum war es schwierig, sich verständlich zu machen. Kaum zu glauben, dass in dem
     Chaos überhaupt jemand bedient wurde. Aber die Kellner schlängelten sich mit erhobenen Tabletts hindurch wie Zirkusartisten.
    »Schönes, ruhiges Plätzchen«, meinte Rath.
    Weinert lachte. »Hier fallen wir weniger auf, als wenn wir uns auf einer einsamen Lichtung mitten im Wald träfen.«
    »Das mag sein. Jeder vernünftige Mensch treibt sich heute woanders rum als ausgerechnet hier.«
    Ein Kellner stellte zwei Kännchen Kaffee auf den Tisch, kassierte und verschwand sofort wieder im Gewühl.
    »Du wolltest mich sprechen?«, fragte Weinert. »Hast du endlich was für mich?«
    Rath zündete sich eine Zigarette

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