Der Nautilus-Plan
geschrubbten, schmutzigen, verschlafenen, wachen Gesichter hatten etwas an sich, das Hoffnung ausstrahlte.
Sie erinnerten sie an die Jahre in Cambridge, als sie in ihrem Alter gewesen war und ebenfalls nach einer Richtung im Leben gesucht hatte. Wahrscheinlich würde sie nicht aufhören zu suchen, bis sie vor Überarbeitung und dem gelegentlichen, aber notwendigen Martini umkippte. Der Umstand, dass sie Vorlesung um Vorlesung wieder auftauchten, stimmte sie zuversichtlich, dass auch sie die Suche nicht aufgeben würden.
»Marx vertrat die Ansicht, Gewalt sei die Geburtshelferin der Geschichte«, sagte sie. »Aber der Faschismus wurde ebenso wenig von Aristokraten geschaffen wie der Kommunismus von einfachen Bauern. Beide waren das Produkt politischer Ideologen, auf der einen Seite Trotzki und Lenin, auf der anderen Hitler und Mussolini, und jedes politische System wurde mit Gewalt geboren. In ihrer ideologischen Verblendung – einer Ersatzreligion, wenn Sie so wollen – verfielen sie und ihre Anhänger in einen Rausch der Gewalt, um eine neue Welt und einen neuen Menschen zu schaffen. Im Fall Stalins und Hitlers setzten sie genauso, wie das heutige Diktatoren tun, Terror und Gewalt nicht nur gegen feindliche Armeen ein, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung, die eigene eingeschlossen. Moderne Beispiele dafür sind Saddam Hussein, Osama bin Laden, die Taliban und das Terrornetzwerk al Qaida.« Sie machte eine Pause, um die Zusammenfassung einwirken zu lassen, dann fuhr sie lächelnd fort: »So, und jetzt sind Sie an der Reihe. Wie passt das Ihrer Meinung nach zu dem, worüber wir in Zusammenhang mit der Psychologie der Gewalt gesprochen haben?«
Sie beobachtete, wie Füße zu scharren begannen und Blicke sich senkten. Die Hände der üblichen Verdächtigen schossen in die Höhe, aber sie wollte, dass sich einmal jemand anders zu Wort meldete.
»Nur Mut, nicht so zaghaft«, lockte sie. »Wer will mal einen Versuch wagen?« Ein paar Hände mehr hoben sich. »Also schön, Sie sehen aus, als hätten Sie etwas Interessantes zu sagen.« Sie zeigte mit dem Finger auf eine Studentin. Bei so einer großen Vorlesung gab es keine Sitzordnung, und obwohl sie die junge Frau von Anfang zwanzig kannte, war Liz nicht sicher, wie sie hieß.
Das glatte hellblonde Haar hing ihr ins Gesicht und verdeckte es zur Hälfte. Sie warf den Kopf herum, um Augen und Mund frei zu bekommen, vielleicht sogar, um atmen zu können. »Bei Erwachsenen«, begann sie ernst, »können Aggressivität und Gewalttätigkeit auf frühkindlichen Erfahrungen basieren, Professor Sansborough, aber das reicht nicht immer als Erklärung aus.«
»Fahren Sie fort.«
»Man könnte diese Erklärung sogar als zu simpel bezeichnen«, fuhr die Studentin mit wachsendem Selbstvertrauen fort. »Als unfair. Manchmal werden ›gute‹ Menschen durch die Macht der Umstände zur Gewalttätigkeit verleitet. Sie … sie lassen sich kurz zu Gewalt hinreißen, und dabei geht gewissermaßen ihr wahres Selbst verloren.« Sie hielt inne, um nach den richtigen Worten zu suchen.
Liz nickte. »Anders ausgedrückt, ihre persönliche Identität wird in einer Art moralischer Abkoppelung vorübergehend aufgehoben. Sie legitimieren ihre Handlungen mit Rechtfertigungen und Deutungen. Daher also der ›Herdentrieb‹ und die ›Macht des Mobs‹, und wie eine ganz normale Durchschnittsperson dazu kommt, etwas Verabscheuungswürdiges und Brutales und Böses zu tun, das sie nie vergessen wird und sich möglicherweise auch nie verzeihen kann …«
Für Liz ging der Rest der Vorlesung wie im Flug vorüber, und sie fühlte sich leicht überdreht, als sie zu Ende war. Sie packte ihre Notizen in ihre Aktentasche. Eigentlich hätte sie an diesem Tag gar nicht unterrichten sollen. Sie hätte mit Sarah und Asher in Paris Urlaub machen sollen. Aber dann hatte sie es doch nicht über sich gebracht, die letzte Vorlesung des Sommersemesters ihrem Assistenten zu überlassen. Dafür war sie zu wichtig. Sie resümierte darin alles, was ihre Studenten lernen sollten, und wer dabei gut aufpasste und seine Notizen noch einmal durchging, konnte davon ausgehen, dass er nicht nur bei der Prüfung gut abschneiden würde, sondern den Stoff auch tatsächlich gelernt hätte.
Wegen der jüngsten kalifornischen Energie-Engpässe wurde die Beleuchtung gedimmt, und der Hörsaal leerte sich rasch. Wie das oft der Fall war, warteten ein paar Studenten auf sie, um sie zu ihrem Büro zu begleiten.
»Aber sollte sich
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