Der Nebel weicht
leise. Corinth blieb stehen. „Was ist los?“ fragte er.
„Angst.“ Die Augen waren hell und trübe. „Es ist mir plötzlich klar geworden: Ich bin allein.“
Corinths Verstand hatte die Antwort schon formuliert, aber er hörte sich zuerst die panikerfüllten Sätze an: „Alles, was ich weiß, alles, was ich bin, ist hier, in meinem Kopf. Alles existiert nur dadurch für mich, daß ich es weiß. Und irgendwann werde ich sterben.“ Ein dünner Speichelfaden rann aus seinem linken Mundwinkel. „Irgendwann wird die große Dunkelheit kommen, ich werde nicht mehr sein – nichts wird mehr sein! Sie mögen vielleicht noch existieren, für sich – obwohl ich nicht weiß, ob Sie nicht ein Phantasiegebilde von mir sind –, für mich aber wird nichts mehr sein, nichts, nichts. Ich werde sogar nie gewesen sein.“ Tränen traten in die glanzlosen Augen.
Wahnsinn – ja, das war ein wesentlicher Grund für den Kollaps. Es mußte Millionen geben, die nicht in der Lage waren, die plötzliche Erweiterung und Vertiefung der Erkenntnisfähigkeit zu ertragen. Sie waren nicht fähig, ihre neue Kraft zu bewältigen, und das hatte sie verrückt gemacht.
Er schauderte in der heißen, unbeweglichen Luft.
Das Institut war wie das Paradies. Als er es betrat, hielt ein Mann Wache, der neben sich eine Maschinenpistole und auf seinem Schoß ein Chemielehrbuch liegen hatte. Das Gesicht blickte Corinth ernst an. „Hallo.“
„Hat’s Ärger gegeben, Jim?“
„Bis jetzt noch nicht. Aber man kann nie wissen – bei all den Plünderern und Fanatikern.“
Corinth nickte, fühlte, wie etwas von der inneren Kälte schwand. Es gab noch immer rational denkende Menschen, die sich nicht durch plötzliche Veränderungen irritieren ließen, sondern still ihre Arbeit verrichteten.
Der Lift wurde von einem siebenjährigen Jungen bedient, dem Sohn eines Institutsangestellten; die Schulen waren geschlossen.
„Hi, Sir“, sagte er fröhlich. „Ich habe auf Sie gewartet. Wie um alles in der Welt ist Maxwell auf seine Gleichungen gekommen?“
„Was?“ Corinths Blick fiel auf ein Buch, das auf dem Sitz lag. „Oh, du beschäftigst dich mit Radiotechnik, wie? Cadogan ist für den Anfang ziemlich schwierig, du solltest …“
„Ich hab’ Schaltpläne angesehen, Mr. Corinth. Ich möchte wissen, warum sie funktionieren, aber Cadogan führt hier nur die Gleichungen an.“
Corinth nannte ihm ein Werk über Vektorrechnung. „Wenn du damit fertig bist, kannst du wieder zu mir kommen.“ Er lächelte, als er den Aufzug verließ, aber sein Lächeln schwand, als er den Korridor entlangging.
Lewis erwartete ihn im Labor.
„Spät“, knurrte er.
„Sheila“, erwiderte Corinth. Die mündliche Kommunikation veränderte sich schnell zu einer neuen Form von Sprache. Bei einem Verstand, dessen Kapazität vervierfacht ist, reicht ein einziges Wort, eine einfache Geste, der Anflug eines Gefühlsausdrucks, um jemandem, dem man mit seinen Verhaltensweisen bekannt war, mehr zu vermitteln als mehrere Grammatiken.
„Du bist spät dran“, hatte Lewis gemeint. „Hast du Probleme?“
„Sheila hat mich aufgehalten“, hatte Corinth ihm geantwortet. „Sie kommt mit dem Ganzen nicht zurecht. Offen gestanden, Nat, ich mache mir Sorgen ihretwegen. Aber was kann ich tun? Ich verstehe die menschliche Psychologie nicht mehr, sie verändert sich zu stark und zu schnell. Niemand kommt mehr damit zurecht. Wir werden uns alle sehr fremd und uns selbst auch – und das macht mir Angst.“
Lewis setzte sich in Bewegung. „Komm, Rossman ist hier, er will mit uns plaudern.“
Sie gingen den Gang entlang und kamen dabei an Johansson und Grunewald vorbei, die in ihre Arbeit vertieft waren. Bestimmung der veränderten Konstanten der Natur, Neueichung der Instrumente; sie bauten das gewaltige Grundlagensystem der Wissenschaft von Anfang an neu auf.
Im ganzen Gebäude klärten die anderen Abteilungen die veränderten Gesichter ihrer Disziplinen. Kybernetik, Chemie, Biologie und vor allem Psychologie – überall im Gebäude grollte man darüber, schlafen zu müssen; es gab soviel zu tun.
Die Abteilungschefs hatten sich im Hauptkonferenzraum um den langen Tisch versammelt. Rossman saß am Kopfende – groß und hager und weißhaarig, die ernsten Gesichtszüge bewegungslos. Helga Arnulf sen saß zu seiner Rechten und Felix Mandelbaum links von ihm. Einen Augenblick lang fragte sich Corinth, was der Gewerkschaftsorganisator hier wollte. Dann wurde ihm klar, daß er
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