Der Nebelkönig (German Edition)
schlüpfte mit einem Seufzer der
Erleichterung in ihre altvertrauten, überall geflickten und nur nach ihr und
Küchendünsten riechenden Kleider.
Ein freier Tag. Sie konnte
sich nicht erinnern, wann sie zuletzt einen freien Tag gehabt hatte. Sallie
stand ein wenig verloren vor der Tür des Küchentraktes, dann glättete sich ihre
Stirn und sie klatschte in die Hände. Irgendwann im letzten Winter hatte sie
begonnen, die Keller und die Gänge unter den Kellern zu erforschen. Das wäre
eine Unternehmung, bei der sie die Erinnerung an den letzten Abend hinter sich
lassen könnte. Und danach würde sie wieder in die Bibliothek gehen, denn Uhl
hatte Andeutungen gemacht, dass er ein Buch für sie im Auge hätte, das sie interessieren
würde.
In ihrer Schürzentasche
steckten gut verwahrt ein Stück Brot, etwas in Ölpapier eingeschlagener Käse
und ein Apfel, als sie die steile Treppe zum Weinkeller hinabstieg. Ihre
seltenen Exkursionen in die Kellergewölbe und das darunterliegende Gewirr der
Gänge und Stollen waren für sie kleine abenteuerliche Höhepunkte ihres
gleichförmigen Alltags. Sie hatte die offenbar verlassenen Gänge zufällig
entdeckt, als sie im Herbst in den Weinkeller geschickt worden war, um einen
Krug Roten für eine Sauce zu holen. Die tieferen Kellergefilde waren ihr
unbekannt gewesen, und sie hatte voller Neugier in einige der finster gähnenden
Durchlässe geblickt, in denen es verheißungsvoll raschelte und nach Rätseln und
wunderbaren Entdeckungen roch.
Am nächsten Abend war sie
nicht in die Bibliothek ge gangen, sondern hatte sich mit einem Licht
ausgerüstet und damit begonnen, die Dunkelheit zu erkunden.
Jetzt entzündete sie ihre
Lampe und leuchtete in den dritten Durchgang hinter dem zweiten Weinkeller.
Dort hinten hatte sie zum ersten Mal eine der Treppen gefunden, die noch weiter
hinunterführten. Die Treppe war alt, ihre Stufen wirkten ausgetreten, als
würden sie oft benutzt, aber Sallie war hier noch nie einer Menschenseele
begegnet.
Sie tastete sich behutsam
abwärts, denn die steilen Stufen waren abschüssig und es gab nichts, woran sie
sich hätte festhalten können. Der schwache Schein ihrer Lampe erhellte immer gerade
die nächste Stufe und die feuchten Wände neben ihr. Modrige Luft strich an
ihren Wangen vorbei und sie atmete sie voller Wonne ein. Ihr Herz klopfte und
all ihre Sinne waren erwartungsvoll gespannt, während sie in die vor ihr
liegende Düsternis starrte.
Etwas huschte über ihren Fuß,
als sie den fest gestampften Boden am Fuß der Treppe erreichte. Das Getier, das
dieses unterirdische Reich bevölkerte, war zumeist mit enorm vielen Beinen
versehen oder ganz und gar beinlos und entweder pelzig oder hart und glatt,
manchmal auch glitschig. Sallie scherte sich nicht darum, obwohl es sie
manchmal danach gelüstete, einige der Kellerbewohner in ihrer Schürzentasche zu
sammeln und der zimperlichen Roza in das zu putzende Gemüse zu stecken – das
gäbe einen schönen Aufruhr und großes Geschrei, da war sie sich sicher.
Das Lampenlicht tanzte über
die roh behauenen Wände. Weiter unten hörte der Stein auf und bleiche Wurzeln
wuchsen durch die Seitenwände des Ganges. Ihre Schritte klangen dumpf und
erstickt. Manchmal stellte sie sich vor, wie all die Erde über ihr lastete und
noch darüber das riesig aufragende Haus mit seinen Türmen und dicken Mauern.
Der Gedanke machte ihr die Brust ein wenig eng, aber das erhöhte nur den Reiz
der Spannung.
Nach der dritten Kreuzung
suchte sie in den Wänden nach den Markierungen, die sie bei ihren letzten
Besuchen hinterlassen hatte. Den rechten Gang hatte sie bereits zweimal
erkundet – sie erinnerte sich, er endete nach einigen Minuten abrupt an einer
geschlossenen Wand, als hätte der Stollenbauer plötzlich die Lust verloren,
weiterzugraben.
Sallie wählte den linken Gang,
der noch keine Markierung trug. Während sie dem leicht abschüssigen Stollen in
seinem Verlauf folgte, dachte sie darüber nach, welchem Zweck diese Gänge wohl
dienen mochten. Sie verbanden zumindest in dem Teil, den sie kannte, keine
Kellerräume miteinander, sondern kreuzten nur andere Gänge, die vom Nichts ins
Nirgendwo führten.
Zwei Kreuzungen später, die
immer noch weiter hinabführten, legte sie eine Pause ein. Während sie auf ihren
Fersen hockte und den Apfel aus ihrer Schürze holte, gähnte sie herzhaft. Noch
eine Kreuzung weiter, dann würde sie den Rückweg antreten. Sallie polierte den Apfel
und stellte sich die Menschen
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