Der neue Frühling
murmeln, und sie sah, wie er betrübt den Kopf schüttelte.
»Wenn euch der Vertrag nicht zusagt«, schrie Nialli, »dann lehnt ihn ab! Lehnt ihn ab! Aber lehnt auch den Krieg ab! Die Königin meint es aufrichtig. Sie bietet uns Liebe und Frieden. Unsere größte Hoffnung liegt in ihrer Umarmung. Sie wird warten, bis wir allesamt erwachsen werden – die volle Menschwerdung erreichen, ihres Volkes würdig geworden sind –, und dann wird es uns freistehen, uns mit ihnen in einer neuen Solidargemeinschaft zu verbinden, so wie einst die Sechs Völker der Großen Welt verbunden waren, ehe die Todessterne niederstürzten! Und dann… dann…«
Plötzlich rang sie schluchzend nach Luft. Alle Kraft wich urplötzlich von ihr. Sie hatte sich über das Maß verausgabt. Ihre Augen zuckten wild umher, ihr Körper wurde von Schaudern geschüttelt.
»Holt sie da runter«, sagte jemand – Staip, oder Boldirinthe? – hinter Husathirn Mueri.
Alle schrien und brüllten wild durcheinander. Nialli klammerte sich wie in heftigem Fieberschauder fröstelnd an das Rednerpult. Sie glaubte sich kurz vor einem Krampfanfall. Sie wußte, sie war zu weit gegangen, viel zu weit! Sie hatte Unaussprechliches gesagt, die Wahrheit, die sie all die Jahre hindurch vor ihrem Volk zurückgehalten hatte. Und nun hielten sie alle für verrückt. Vielleicht war sie es.
Der Saal um sie herum schwankte, Thu-Kimnibols roter Trauerumhang waberte und pulste wie eine tobsüchtig gewordene Sonne. Hresh, am Präsidialtisch wirkte, als sei er in einer Betäubung erstarrt. Sie blickte zu Taniane, doch der Häuptling stand unergründlich hinter der Maske verborgen, vollkommen reglos inmitten des Chaos, das durch den Saal tobte.
Nialli Apuilana merkte, daß sie zu taumeln begann.
Was für eine schreckliche Szene, dachte Husathirn Mueri. Schockierend. Beängstigend. Erbarmenswürdig. Er hatte Nialli mit wachsender Verblüffung und Bestürzung zugehört. Allein schon ihr Erscheinen an diesem Ort – so jung, so mysteriös, so herzzerreißend schön – hatte eine ungeheuerliche Wirkung auf ihn gehabt. Nie wäre ihm der Gedanke gekommen, Nialli Apuilana könnte jemals vor dem Präsidium sprechen. Aber ganz gewiß hätte er nicht damit gerechnet, daß sie derartige Dinge sagen würde – und überdies noch mit einer derartigen unerschrockenen Kühnheit. Sie jedoch so wild und stark eine Sache vertreten zu hören, das hatte Nialli für ihn nur um so erstrebenswerter gemacht: Ja, eigentlich war sie damit geradezu unwiderstehlich für ihn geworden.
Dann aber war ihre Rede zu chaotischem Gestammel abgesunken, und Nialli selbst war vor ihrer aller Augen von einem hysterischen Anfall gepackt worden.
Und nun war offensichtlich, daß sie jeden Moment zusammenbrechen konnte.
Husathirn Mueri zögerte keinen Atemzug lang, ja er dachte überhaupt nicht, sondern stürzte nach vorn, schwang sich auf das Podium, ergriff Nialli an beiden Ellbogen und hielt sie sicher und aufrecht.
Das Mädchen warf heftig den Kopf und keuchte: »Laß – mich – los!«
»Bitte, komm von da herunter.«
Sie funkelte ihn wild an – doch war es wirklich Haß oder nur ihre Benommenheit? Sanft zog er sie, und sie gab ihm nach. Behutsam führte er sie vom Podium und zog sie, den Arm schützend um sie gelegt, zur Seite weg. Er setzte sie auf einen Platz. Sie starrte wie aus völlig blinden Augen zu ihm auf.
Dann schmetterte Tanianes Stimme in seinem Rücken wie eine Trompete.
»Hört unseren Beschluß! Es erfolgt heute keine Abstimmung. Der Vertrag wird weder zurückgewiesen noch akzeptiert, und es erfolgt auch keine Antwort an die Königin. Der gesamte Vertragskomplex ist auf unbestimmte Zeit zurückgestellt. Inzwischen beabsichtigen wir, Gesandte nach Yissou zu entsenden, um mit König Salaman die Bedingungen eines bilateralen Verteidigungsbündnisses auszuhandeln.«
»Ein Bündnis gegen die Hjjks also?« rief jemand.
»Gegen die Hjjks, ja. Gegen unseren Feind.«
3. Kapitel
König Salaman empfängt Besuch
In der nebelkühlen Frühe eines Mittsommermorgens begab sich der König Salaman von Yissou zusammen mit seinem Sohn Biterulve, seinem Liebling unter seinen zahlreichen Söhnen, hinaus, um die gewaltige, immer noch nicht fertiggestellte Befestigungsmauer um seine Stadt zu inspizieren.
An jeglichem Tag, ohne Ausnahme, fuhr der Herrscher von seinem Palast im Herzen der Stadt aus, um den Fortschritt der Arbeiten zu besichtigen. Dann stand er am Fuß des Walls und starrte zu den Zinnen und
Weitere Kostenlose Bücher