Der neue Frühling
die ich aber nicht länger verheimlichen kann.
Verwirrte Reaktion Tanianes.
Du willst vor der Präsidialversammlung sprechen?
Ja und zwar bei der Vertragsdebatte.
Sie sah, wie erregt Tanianes Gedanken waren. Der Vorschlag war eine aberwitzige Kühnheit. Ein Mädchen wie Nialli – als Redner – in der Präsidialversammlung? Gestatten, daß dieses Kind mit seinen kapriziösen, wirren, impulsiven schwärmerischen Phantasiegespinsten das Höchste Gesetzgebende Gremium der Stadt besudle? Dennoch, die Vorstellung war verführerisch: endlich bricht die störrisch-launenhafte Nialli Apuilana ihr Schweigen. Sagt endlich aus, enthüllt endlich die Geheimnisse des NESTS. Legt alle die scheußlichen Einzelheiten bloß. In Tanianes Augen der Schimmer der Versuchung. Ein wenig – endlich! – zu erfahren, was in ihrer Tochter vorgeht. Sogar wenn dies in der Präsidialversammlung zu einem öffentlichen Spektakel an Enthüllungen würde. Laß mich reden, Mutter! Laß mich! Bitte – laß mich sprechen! Und der Häuptling nickt Zustimmung.
Und so unwirklich es ihr erscheint, hier ist sie. Am Rednerpult, und aller Augen warten auf sie. Endlich die wahre, die wirkliche Geschichte. Nach beinahe vier Jahren die große Offenbarung. Wagte sie es? Wie würde man darauf reagieren? Für Augenblicke versagte ihr die Stimme. Man wartete. Sie spürte die Ungeduld, die Feindseligkeit, die ihr aus dem Saal entgegenschlug. Für die Mehrzahl der Leute da unten war sie nichts weiter als ein Freak, ein Monster… Ob man sie auslachen würde? Sie verhöhnen? Sie war immerhin die Tochter des Häuptlings. Das wenigstens müßte einige Zurückhaltung bewirken, hoffte sie. Aber es war so scheußlich schwer, den Anfang zu finden. Sollte sie kneifen und davonlaufen? Nein… Nein! Auf keinen Fall! Also, rede zu ihnen… Fang an mit der Show, Nialli!
Und das tat sie dann endlich und begann zu sprechen. Leise, so leise, daß es ihr als zweifelhaft erschien, ob man sie auch nur in der vordersten Reihe hören werde.
»Ich danke dem Hohen Haus und euch allen für die Auszeichnung. Ich stehe hier heute vor euch, weil es Dinge gibt, die ihr wissen müßt – und ich allein kann sie euch sagen –, bevor ihr über eine Antwort auf die Botschaft der KÖNIGIN entscheidet.«
Ihr Herz raste. Ihre Zunge war pelzig vor Beklemmung. Sie zwang sich, ruhig zu werden.
»Im Gegensatz zu euch allen«, sprach sie weiter, »habe ich wirklich unter Hjjks gelebt, wie ihr wißt. Denn ihr habt ja kaum vergessen, daß ich ihre Gefangene war. Und ich jedenfalls kann es niemals vergessen. Ich kenne sie also aus nächster persönlicher Erfahrung – dieses Ungeziefer, von dem ihr sprecht, diese widerwärtigen Wanzen und Kakerlaken, die eurer Überzeugung nach mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müßten. Ich aber sage euch, sie sind alles andere als die abscheulichen seelenlosen Ungeheuer, als die ihr sie darstellt…«
»Sie haben uns überfallen und wollten uns töten, als wir Yissou gründeten!« unterbrach lautstark Thu-Kimnibol. »Wir waren unser nur zu elft und ein paar Kinder. Ein erbärmliches Bretterbudendörfchen, ein paar hundert Meilen von ihrem Gebiet entfernt. Also nicht gerade eine ernsthafte Bedrohung für sie. Aber sie zogen zu Tausenden heran, um uns zu vernichten. Und sie hätten uns ausgelöscht, wenn wir nicht…«
Ruhig sprach Nialli gegen seine tiefdröhnende Stimme an. »Nein! Sie waren nicht gekommen, um euch zu ermorden.«
»Es sah aber ganz so aus für uns – ein Riesenheer kreischender Krieger, die wild mit ihren Speeren herumfuchtelten. Aber natürlich – jeder kann sich mal irren. Also vermute ich, es handelte sich damals nur um einen netten kleinen Höflichkeitsbesuch.«
Der weite Saal dröhnte vor Gelächter.
Nialli klammerte sich an die Pultkanten. Mit fast zersplitternder Stimme sprach sie weiter. »Ja. Genau, Gevatter, es war ein Irrtum. Aber wie hättet ihr wissen sollen, was sie dort wollten? Habt ihr auch nur ein minimales Begriffsvermögen dafür, warum sie Dinge tun, die sie tun? Verfügt ihr auch nur über den winzigsten Einblick in ihre Denkstruktur?«
»Ihre Denk struktur?« sagte Puit Kjai mit breitem Sarkasmus.
»Ihre Denkstruktur, genau! Ihr Denken und ihre Seele. Ihre Weisheit… Nein, jetzt laßt mich bitte ausreden! Ich will ausreden!« Plötzlich war alle Furcht von ihr gewichen. Nialli ging zum Angriff über und forderte heraus. Sie schien vor Leidenschaft zu lodern. »Ihr kennt mich alle, denke ich. Ihr haltet
Weitere Kostenlose Bücher