Der neue Frühling
Jedermann – sogar Salaman selbst – begriff, daß ‚die Mauer’ kein Gegenstand für eine vernünftige Diskussion sein konnte. Wo es um seine Große Mauer ging, war der König Vernunftgründen nicht zugänglich. Ihn interessierte nur eines: Er wollte sie so hoch auftürmen, daß die Gefahr, sie könnte jemals erstürmt werden, gänzlich irrelevant sein würde.
Bei seinen Inspektionen im Morgengrauen wählte er sich jedesmal einen anderen Treppenaufgang, stieg jedoch unweigerlich über die zweite Treppe links von der seines Aufstiegs wieder nach unten, so daß er sechs Tage brauchte, um den vollen Kreis des Bollwerkes abzugehen. Von diesem Ritual wich er niemals ab, weder im Winter noch im Sommer, nicht bei Regen oder Gluthitze. Ihm war, als hinge die Sicherheit der Stadt davon ab.
Biterulve schoß die Treppe hinauf. Salaman folgte ihm in etwas gemessenerem Tempo. Oben angelangt, stampfte er kräftig auf die festgefügten Ziegel des Umlaufs, der über den mächtigen schwarzen Steinquadern lag wie eine widerstandsfähige Hautschicht über mächtigen Muskelbergen.
Salaman lachte. »Spürst du, wie fest das unter deinen Füßen ist, Junge? Da hast du mal einen Wall! Das ist eine Mauer, auf die man stolz sein kann!«
Er legte dem Jungen den Arm um die Schultern und starrte in die dunstige Ferne des Landes um den Stadtbereich.
Die Stadt Yissou lag in einem lieblichen fruchtbaren Talstrich. Im Norden und Osten begrenzten dichte Wälder und Berge die Gegend, südlich erhoben sich sanftere Hügel, und gen Westen erstreckte sich rauhes wildes Land bis ans ferne Meer.
Der gewaltige Krater, der die Stadt enthielt, lag tief in dem von dichtem roten und grünen Gras bewachsenen Gebirgsschatten. Der Krater war kreisrund und von einem hohen, scharfgezeichneten Rand umgeben. König Salaman glaubte, obschon er dafür nie einen Beweis hatte finden können, daß er durch die Wucht des Aufschlags eines Todessterns entstanden sei, der in den frühen Tagen der Finsternis des Langen Winters gegen die Erdwölbung gestürzt war.
Aber so hoch dieser Kraterrand auch war, er bot wenig Schutz gegen Eindringlinge. Deshalb bauten sie nun schon seit fünfunddreißig Jahren unablässig an der Großen Yissou-Mauer.
Salaman hatte den Bau im sechsten Jahr der Stadtgründung begonnen, dem dritten Jahr seiner Regierung nach dem Tode des unruhigen seelenumdüsterten Harruel, des ersten Königs von Yissou. Während seiner langen Regierungszeit hatte Salaman erleben dürfen, daß die Mauer fast überall bis zur Höhe von fünfzehn Schrittlängen emporgewachsen war und auf dem Kraterrand einen gewaltigen Befestigungsring um die ganze Stadt bildete.
In den frühesten Tagen hatte eine einfache Palisadenbarriere dort gestanden und der Stadt einen wenig wirksamen Schutz geboten. Aber Salaman, damals noch ein Jungkrieger – doch schon ehrgeizig davon träumend, wie er Harruel als König nachfolgen werde –, hatte gelobt, den Zaun eines Tages durch einen unüberwindlichen Wall aus Stein zu ersetzen. Und dieses Gelöbnis hatte er gehalten.
Ja, wenn der Wall nur hoch genug gewesen wäre! Aber wie hoch ist ‚hoch genug’?
Während seiner Herrschaft hatte es bislang keinen Angriff seitens der Hjjks gegeben – entgegen allen seinen Befürchtungen. Sie streiften durch das weitere Umland, gewiß. Zuweilen näherte sich auch ein kleiner Trupp von zehn oder zwanzig Mann, die aus irgendwelchen unerfindlichen Hjjk-Gründen von dem Vorposten Vengiboneeza ausschwärmten, der Stadt. Doch wagten sie sich nie näher als auf Sichtweite heran – waren nichts weiter als gelb-schwarze Punkte, scheinbar nicht größer als Ameisen, ihre entfernten Verwandten. Dann drehten sie stets wieder nordwärts ab, nachdem sie anscheinend den Drang gestillt hatten – oder was immer sie zu dem Vorstoß veranlaßt hatte. Hjjks sind auf ewig undurchschaubar, dachte Salaman.
Und so herrschte Jahr um Jahr weiterhin der von den Hjjks so genannte ‚Königinfrieden’. Doch das konnte sehr leicht nichts weiter als eine Falle sein, eine Lüge oder eine Wahnvorstellung, ein momentaner Zufall. Die Hjjks konnten damit nach Belieben jederzeit Schluß machen. Jederzeit konnte der Krieg ausbrechen. Und früher oder später würde der Krieg ausbrechen.
Wie also hätte Salaman sich in Sicherheit wiegen dürfen, daß ein Schutzwall von fünfzehn Lagen Höhe ausreichend hoch sei? Im Geiste sah er die feindlichen Hjjks immer längere und längere Sturmleitern bauen und über seine Mauer
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