Der Neue im Sportinternat
wird!
»Sie wissen, weshalb ich Sie zu mir beordert habe«, sagt Winkler nüchtern und lehnt sich in seinem Schreibtischsessel zurück. »Gegenwärtig muss ich als Internatsleiter Sachverhalten nachgehen, die für mich inakzeptabel sind. Milde und Verständnis wird es nicht geben. Wehret den Anfängen!, sage ich immer. Drachenfels ist ein Ort für junge, aufstrebende Menschen und Sportler mit einer Vision. Wir fördern und fordern. Der Deutsche Sportbund sieht in uns eine Talentschmiede. Zu meinem Bedauern findet derzeit im Zwischenmenschlichen kein Fairplay statt. In meiner Position bin ich angehalten zu handeln. Persönlich fühle ich mich dem ebenso verpflichtet. Herr Tomlin hält große Stücke auf Sie, Leon. Er ist Ihr Fürsprecher und hat mir eindrucksvoll von Ihrem Talent als Schwimmer berichtet. Uneingeschränkt stimme ich Herrn Tomlin zu, dass Sie als Schwimmer ein absoluter Gewinn für Drachenfels sind. Jedoch ist Ihr Talent nicht Gegenstand dieses Gespräches. Ihre Integrität als Person steht auf dem Prüfstand! Die Anschuldigungen, denen Sie ausgesetzt sind, gilt es zu prüfen und eine Lösung zu finden. Am Rande möchte ich erwähnen, dass ich Ihre Kooperation voraussetze und erwarte! Sie können sich mir anvertrauen. In meiner Position ist mir nichts Menschliches fremd, auch wenn ich eine Neutralität wahren will und muss. Was sagen Sie zu der Anschuldigung von Maurice?«
»Ich hab nichts damit zu tun!« Leon hält sich knapp. Er will nicht plappern, nicht ausschweifend reden und sich in unnötige Worte verlieren. Unschuldig!, ist alles, was er zu sagen hat.
»Und wieso stellt Maurice die schwerwiegende Anschuldigung auf? Was denken Sie?«
»Ich weiß es nicht!«
Winkler betrachtet Leon kritisch. Er schweigt. Für einige Sekunden beäugt er Leon einfach nur, als wolle er ihn testen. Er öffnet den Aktenordner, der vor ihm liegt, zieht ein Blatt vor. »Hier!« Er reicht das Blatt über den Schreibtisch. »Das dürfte Sie interessieren!«
Leon nimmt das Blatt. Es ist ein Brief, der mit Hilfe eines Computers geschrieben wurde. Leon beginnt zu lesen. Sehr geehrter Herr Winkler, ich möchte Sie wissen lassen, dass Leon Farrell Maurice Wittler nicht niedergeschlagen und verprügelt hat! Maurice lügt und stellt die Beschuldigung auf, um den wahren Tathergang samt Hintergrund zu verschleiern. Dafür hat Maurice persönliche Gründe! Sie sollten Maurice zu David Pragosch befragen. Wenn Sie diesen Rat befolgen, werden Sie fündig werden und die Lüge aufdecken! Meinen Namen möchte ich nicht nennen. Dafür habe ich gute Gründe. Seien Sie versichert, dass diese Zeilen aufrichtig sind und der Gerechtigkeit dienen sollen. Ein Freund des Hauses! Leon hebt den Blick, sieht in Winklers Gesicht und reicht ihm den Brief.
»Ich gehe davon aus, dass Sie nicht der Verfasser sind.« Winkler nimmt den Brief an sich und legt ihn im Aktenordner ab. »Mein Instinkt sagt mir, dass ich dem anonymen Hinweis nachgehen muss. Hand aufs Herz, Leon. Wissen Sie vielleicht mehr, als Sie mir sagen wollen?«
»Nein, wirklich nicht, Herr Winkler!«
»Wissen Sie, ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand einem anderen was am Zeug flicken will. Auf so was reagiere ich äußerst allergisch! Vielleicht ist es schon bis zu Ihnen vorgedrungen, dass ich mich für die Resozialisierung von Jugendlichen mit krimineller Vergangenheit engagiere. Ich habe in jeder Hinsicht einen starken Gerechtigkeitssinn. Außerdem glaube ich, dass jeder eine zweite Chance verdient. Allerdings ist Aufrichtigkeit und Einsicht eine Grundvoraussetzung dafür! Für mein gesellschaftliches Engagement gibt es einen persönlichen Auslöser. Mein Bruder hat viele Jahre im Gefängnis eingesessen und nach der Inhaftierung niemals wieder Halt im Leben gefunden. Nach einem Raubüberfall ist er auf der Flucht auf der Autobahn tödlich verunglückt. Von mir dürfen Sie Gerechtigkeit erwarten, aber auch Härte. Bis zur eindeutigen Klärung der Sachlage geht für Sie alles wie gewohnt weiter. Eine Einschränkung bleibt bestehen. Sie haben sich von Maurice fernzuhalten! Sollten Sie sich Maurice nähern oder das Gespräch mit ihm suchen, müssen Sie uns auf der Stelle verlassen. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja.«
»Nun gut. Sie können jetzt zum Unterricht. Ich habe gleich noch eine Unterredung mit Maurice«, sagt Winkler und lächelt kurz. »Und vernachlässigen Sie bitte nicht Ihr Training, auch wenn der Kopf derzeit nicht frei sein dürfte. Disziplin bringt uns im Leben
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