Der neue Jugendterror
Menschen viel eher zu gelten, dass ihre Maßstäbe für Gut und Böse recht variabel sind. Sie werden ganz wesentlich dadurch bestimmt, was zufällig in jener Gemeinschaft gilt, in der sie gerade leben und auf die sie sich sozial beziehen. Das jedenfalls zeigen auch die experimentellen Ergebnisse der neuen Verhaltensökonomik, die ich in Kapitel 3 diskutiert habe.
So kann Gut zu Böse und Böse zu Gut werden, alle Maßstäbe wanken je nach dem sozialen Kontext, in den sie gestellt werden. Die offenbarten Wahrheiten der Religion hatten immerhin den Vorteil, dass sie sich bereits über Jahrtausende bewähren mussten und nicht willkürlich geändert werden konnten. Wo aber zunehmend an die Stelle der Religion die menschliche »Vernunft« mit ihren willkürlichen Zuschreibungen trat, da gab es kein Halten mehr. Die Demokratie – bei aller Beschränkung der Urteilskraft der meisten ihrer Subjekte – hat immerhin den Vorteil, dass sie an die Stelle religiöser Gebote oder Wahnideen von Ideologien verbürgte Bürgerrechte und langwierige Prozeduren setzt und auf diese Art so manches Übel abwendet.
Trotzdem bleibt das Problem: Die meisten Menschen haben offenbar keinen zuverlässigen Kompass für eine eindeutige Unterscheidung von Gut und Böse. Deren Maßstäbe sind vielmehr sozial vermittelt, kulturell unterschiedlich und schwanken wild je nach dem Kontext. Nur so lässt sich das Rätsel lösen, dass alle Formen des unmenschlichsten Terrors stets so viele Helfer auch unter ganz normalen Menschen finden. 366
Der Revolutionär Rubaschow hatte sich der Vernunft verschrieben und, wie er kurz vor seiner Erschießung räsonnierte, die »Reste des alten unlogischen Moralgefühls mit der Säure der Vernunft aus seinem Bewusstsein gebrannt«. 367 Damit war er Vollstrecker des Tugendterrors im Sowjetkommunismus: »Wahrheit ist, was der Menschheit nützt, Lüge, was ihr schadet.« 368 Als er zu zweifeln begann, wurde er verhaftet und akzeptierte schließlich, dass er wegen dieser Zweifel die Vernichtung verdiente, weil er nur so die Idee retten konnte, der er sich vierzig Jahre lang verschrieben hatte. In seinen letzten Minuten überlegte er: »Es war ein Fehler im System, vielleicht lag er in dem Satz, in dessen Namen er andere geopfert hatte und selbst geopfert wurde: in dem Satz, dass der Zweck die Mittel heilige.« Er hoffte auf eine neue Bewegung: »Vielleicht werden die Mitglieder der neuen Partei Mönchskutten tragen, und ihre Lehre wird sein, dass nur die Reinheit der Mittel das Ziel heiligt.« 369 Ihn jedenfalls wie Millionen andere hatte das faustische Streben nach Wahrheit in die Irre geführt. Der Tugendterror wuchs aus dem Irrtum, dass die Wahrheit, der er sich verschrieben hatte, unumstößlich und gewiss sei.
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird’s Ereignis
spricht der Chorus Mysticus am Ende der faustischen Tragödie. 370 Das Absolute und Vollkommene ist nicht von dieser Welt, sondern stets nur eine Fiktion. Gleichwohl ist für die meisten Menschen das Gefühl wichtig, dass es unveräußerliche Maßstäbe moralischen Handelns gibt, die selbst dann gültig sind, wenn wir Orientierungsprobleme haben und möglicherweise schuldig werden.
Die Rolle sozialen Mutes
In Kapitel 3 ist klar geworden, dass die meisten Menschen sich ungern mit abweichenden Meinungen sozial exponieren. Dazu gehören auch abweichende Werthaltungen und moralische Maximen. Die Maximen der Moral und das tatsächliche moralische Verhalten unterliegen mithin grundsätzlich genauso sozialen Ansteckungsprozessen wie die Mode, die politischen Einstellungen, das Sexualverhalten, die Essgewohnheiten oder die bevorzugten sportlichen Betätigungen. Sehr anschaulich zeigt sich dies bei Fällen von unterlassener Hilfeleistung. Menschen exponieren sich umso weniger, je mehr sie sich in einer größeren Zahl verstecken können und je eher sie für sich durch Heraustreten aus der Menge soziale und wirtschaftliche Nachteile oder gar eine physische Gefährdung befürchten. 371 Schon in einer rechtsstaatlichen Demokratie zeigt nur eine kleine Minderheit, wenn es hart auf hart kommt, Zivilcourage.
Diese Neigung zum sozialen Opportunismus im weitesten Sinne ist aber individuell unterschiedlich ausgeprägt. Es gab immer wieder Menschen, die auf den unterschiedlichsten Gebieten nicht der Herde folgten, sondern ihren eigenen Kopf hatten. War die Gesellschaft, in der sie lebten, einigermaßen entwickelt und der Stumpfsinn
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