Der neue Jugendterror
interessiert sich auch für Y.« Es hätten auch einige Axiome mehr oder weniger sein können. Ich habe aber so ein relativ geschlossenes Weltbild abgedeckt. Mindestens Claudia Roth müsste eigentlich begeistert sein. Die 14 Grundannahmen habe ich deshalb »Axiome« genannt, weil hinter ihnen eine Werthaltung oder auch Ideologie steht, deren Kern rational nicht hinterfragbar ist. Dabei handelt es sich um die Norm der Gleichheit. Am allerwenigsten ist hier die Chancengleichheit gemeint. Es geht nämlich nicht um gleiche Chancen für unterschiedliche Menschen. Es geht um die tatsächliche Gleichheit der Menschen. Ungleiches wird verneint, heruntergespielt oder ins Bedeutungslose verschoben. Für alles Ungleiche sind entweder Ungerechtigkeiten oder äußere Umstände ursächlich, die niemand zu verantworten hat. Soweit Wettbewerb zu Ungleichheit führt, ist er illegitim. Jedes äußere Anzeichen von Ungleichheit soll vermieden werden. Darum sollen an den Schulen auch Sitzenbleiben und Noten beseitigt werden, und an den Hochschulen macht sich mindestens in den Kulturwissenschaften die Einheitsnote eins breit.
Viele Forderungen, die sich aus dem Gleichheitswahn ergeben, erscheinen zunächst schlüssig – so lange, bis man ihre Konsequenzen durchdenkt: Im Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg gab es für jüdische Studenten Aufnahmequoten an den Universitäten und für jüdische Absolventen Anstellungsquoten in den Behörden und Unternehmen. Man wollte auf diese Art mehr Gleichheit für die Ungarn bewirken, weil die Juden die höchsten Studierquoten sowie die besten Abschlüsse hatten und die akademischen Berufe so dominierten. Dies schien damals vielen im Sinne tatsächlicher Gleichheit schlüssig. Kaum einer wird heute noch bestreiten wollen, dass das ein falsches Gleichheitsdenken war.
Der Gleichheitswahn ist zu einer dominierenden Strömung in unserer Gesellschaft und insbesondere in den Medien geworden. Er ist nicht die einzige Strömung. Gleichgeschaltet sind wir noch nicht. Aber der Gleichheitswahn greift offenbar so unaufhaltsam um sich wie im späten Römischen Reich das Christentum.
Weil dieser Gleichheitswahn in seiner unduldsamen Axiomatik eine quasi-religiöse Färbung annimmt, streift und überschreitet er häufig die Grenze zum Tugendterror.
Der Gleichheitswahn ist eine Religion. Wie alle Religionen leistet er keinen Beitrag zur Erklärung der Wirklichkeit, und wie alle Religionen wird er gefährlich, wenn religiöse Wahrheiten gegen die beobachtbare Wirklichkeit und ihre widerborstigen Zusammenhänge in Stellung gebracht werden.
Getrieben wird der Gleichheitswahn vom utopischen Überschuss einer Medienklasse, die zu großen Teilen eine komplexe Wirklichkeit, die sie kaum kennt und nur in Bruchstücken versteht, einseitig unter der Brille einer bestimmten moralischen Sicht betrachtet. In der menschlichen Geschichte waren jene immer schon die Schlimmsten, die aus einem Teilverständnis der Wirklichkeit unhaltbare Theorien fütterten und daraus »Erkenntnisse« zogen, nach denen sie die Welt umgestalten wollten.
Ich wünsche mir mehr Leidenschaft für die Wirklichkeit und ihre spröden Kausalitäten. Der moralische Impuls muss sich auf die Bekämpfung des Bösen richten und weniger darauf, die Menschen beim Gutsein zu bevormunden. Dazu muss man sie so nehmen, wie sie sind: als mit gleichen Rechten, aber mit ungleichen Antrieben und Eigenschaften Geborene, deren Streben nach Glück sie auf ungleiche Wege führen kann. Staat und Gesellschaft leisten viel, wenn sie möglichst vielen Menschen diesen Weg erleichtern.
Anhang
Rechtenachweis
DerTextauszug erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags aus:
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage. Notizen 2008–2011.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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