Der neue Jugendterror
verwechselt werden mit physischem Mut. Letzterer gehört auch dazu, falls wegen der eigenen Überzeugung Gefahr für Leib und Leben droht.
Für eine gemeinsame Sache, ob im Krieg oder bei der Bergrettung, zeigen viele Menschen große Tapferkeit. Aber sie tun das im Einklang mit ihrer Gemeinschaft und bekommen Anerkennung dafür. Ganz anders, wenn sie gefordert sind, durch Widerspruch aus dieser Gemeinschaft herauszutreten und sich ihr notfalls zu entfremden.
Die militärische Tüchtigkeit der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg war auch Ergebnis einer großen persönlichen Tapferkeit von Millionen. Auch viele Generäle waren persönlich tapfer und trugen ihr Ritterkreuz militärisch gesehen zu Recht. Aber am Kartentisch des Führerhauptquartiers erstarb denselben Generälen der Widerspruch im Munde, obwohl ihnen doch bei der Formulierung militärischer Bedenken allenfalls die Enthebung von Kommando und die Pensionierung gedroht hätte. Bei aller physischen Tapferkeit fehlte es ihnen an sozialem Mut, auch deshalb konnte der Zweite Weltkrieg so lange dauern. 373
Die Fähigkeit, sich sozialem Druck mental zu entziehen, die eigene Urteilskraft ungetrübt zu erhalten und nach dem eigenen Urteil zu handeln, ist aber generell ein knappes Gut. Die Mehrheit der Menschen ist dazu nicht in der Lage. Das ergibt sich aus ihrer Prägung als soziales Geschöpf und ist kaum eine Frage des Intellekts oder der Moral.
Es gibt offenbar – leider – kein absolutes Gehör für Moral.
An dieser Stelle halte ich kurz inne:
In Kapitel 1 habe ich einige prinzipielle Betrachtungen über Mechanismen der Meinungsbildung und Grenzen der Meinungsfreiheit angestellt. Als ideologischer Kern der Meinungsherrschaft in Deutschland stellte sich dabei ein die unterschiedlichsten Lebensbereiche umfassendes Konzept von Gleichheit heraus. In Kapitel 2 habe ich diese Erkenntnisse an meinen persönlichen Erfahrungen mit Meinungsherrschaft gespiegelt.
In Kapitel 3 habe ich aus der europäischen Ideengeschichte seit der Renaissance einige Ansätze, die Meinungsbildungsprozesse erklären, näher untersucht. Als ein zentrales Phänomen zeigt sich dabei, dass Meinungen offenbar sozial ansteckend sind und Meinungsbildung mit Rationalität und Wahrheitssuche relativ wenig zu tun hat. In diesem Prozess haben heute die Medien eine besondere Leitfunktion. Diese ist wesentlich dadurch geprägt, dass die Journalisten in ihrer großen Mehrheit links vom gesellschaftlichen Mainstream stehen.
Die besondere Rolle von Sprachkontrolle und Sprachvorschriften analysierte ich in Kapitel 4. Dies führt geradewegs in das Herz des Phänomens, das ich, in Anlehnung an die Erfahrungen mit der Französischen Revolution, als »Tugendterror« bezeichne. Kern eines jeden Tugendterrors ist stets der Versuch, durch Meinungs- und Gedankenkontrolle Herrschaft über die Köpfe und den gesellschaftlichen Diskurs zu gewinnen, dabei unerwünschten Denkmustern die Legitimität zu nehmen und die Respektabilität der Meinungsabweichler zu erschüttern. Dies zeige ich in Kapitel 5 am Beispiel unterschiedlicher Erscheinungsformen des Tugendterrors in den letzten 2000 Jahren. »Tugend« hat ja mit Moral zu tun. Im Exkurs zu »Moral und Gewissheit« zeige ich, dass sich auch die Moralvorstellungen des Menschen großenteils auf dem Wege sozialer Ansteckung opportunistisch ausbilden. Eben dies macht unterschiedliche Formen des Tugendterrors erst möglich. Nur wenige Menschen brechen aus solchen Strukturen aus. Sie sind dann, im Guten wie im Bösen, die Veränderer.
Das Christentum, der Islam, alle Spielarten marxistischer Ideologie und nahezu alle Ableger dieser drei Religionen (der Marxismus ist für mich eine säkulare Religion) gehen implizit oder explizit davon aus, dass die Geschichte einen Sinn und ein Ziel hat und die Gläubigen (oder die Herrscher der Hierarchie der Gläubigen) diesen Sinn vollstrecken.
Leicht nachvollziehbar ist, dass der das Recht zum Tugendterror fühlt, der diesen Sinn erkannt hat und sich als dessen Vollstrecker sieht. Die Idee, dass die historische Entwicklung sich auf ein Ziel hinbewegt und einen Sinn hat, nenne ich mit Karl Popper »historizistisch«. Der darin zum Ausdruck kommende historische Determinismus ist gedanklich fehlerhaft. 374 Im Rahmen der Grenzen, die die Lebensbedingungen auf der Erde und die Lebensdauer unseres Sonnensystems setzen, ist die menschliche Geschichte vollständig offen. Wenn eine göttliche Macht darüber steht, dann auf einer
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